Sonntag, 1. Dezember 2013

Die Kunst der Bausünde.

aus Der Standard, Wien, 24./25.8.2013                                                                              Karstadt-Filiale in Braunschweig

Mit Liebe auf die Sünde schauen

Interview | Maik Novotny

Hässlich, kitschig, trist: Bausünden sind unsere liebsten Feinde. Die Architekturhistorikerin Turit Fröbe jedoch hat sie ins Herz geschlossen

"Schaut schiach aus!", lautet oft der reflexhafte Kommentar auf ungewohnte Baulichkeiten, ein Urteil, das meist nach einer Sekunde feststeht, worauf sich der Betrachter in selbstgewisser Empörtheit dann auch gleich wieder abwendet.

 Alexa-Kaufhaus in Berlin

Bausünden sind ein beliebtes Ziel des kollektiven Fingerzeigens. Der Guardian vergibt zurzeit den Carbuncle Cup für das hässlichste Haus Großbritanniens, das Panoptikum flämisch-wallonischen Irrsinns "Ugly Belgian Houses" ist längst eine Internet-Berühmtheit.

Doch was ist eine "Bausünde" wirklich? Nachlässigkeit, Planungsbürokratie, Ignoranz der Umgebung gegenüber, Stilunsicherheit oder wild wuchernde Selbstbaupatchworks aus Baumarktmitbringseln: Es gibt Dutzende verschiedene Gründe, warum uns Bauten unangenehm ins Auge stechen.

Bierpinsel in Berlin-Steglitz

Vielleicht greift die reflexhafte Häme also doch zu kurz? Die Berliner Architekturhistorikerin und Urbanistin Turit Fröbe sammelt seit Jahren bauliche Ausrutscher aller Art, die jetzt in Buchform erschienen sind. Warum es gute und schlechte Sünden gibt und warum man den liebevollen Blick benötigt, erklärt sie im Gespräch.

in Bielefeld

STANDARD: Sie dokumentieren seit zwölf Jahren Bausünden. Was hat Sie dazu inspiriert?

Fröbe:  Es gab eine Initialbausünde, und zwar einen mit Betonsäulen umstellten Stromkasten in Bielefeld. Dieses Ensemble hat mich in seiner Rätselhaftigkeit völlig fasziniert. Ich habe es meinen Freunden gezeigt, die alle schon mehrmals direkt daran vorbeigegangen waren, keiner von ihnen hatte es bemerkt. So fing ich an, das zu dokumentieren.

 „Elefantenklo“: Fußgängerüberführung in Gießen mit grotesk großen Löchern 

STANDARD:  Hat sich Ihre Wahrnehmung von Architektur seitdem verändert?

Fröbe:  Ja, völlig. Anfangs habe ich mich wie jeder andere geärgert über all das Schrille und Hässliche, ich kannte Bausünden nur vom Wegsehen. Irgendwann fiel mir auf, dass ich bei meinen Fotosafaris immer gute Laune hatte. Beim genaueren Hinsehen entdeckte ich Charme, Schönheit, Charakter und Potenzial. Ich merkte, dass Bausünde nicht gleich Bausünde ist: Es gibt gute und schlechte.

Hamburger Kirche im Bunkerstil

STANDARD:  Was kann man sich unter guten Bausünden vorstellen?

Fröbe:  Als Faustregel gilt: Je wütender eine Bausünde macht, desto wahrscheinlicher ist es, dass es eine gute ist. Gute Bausünden sagen etwas aus über die Stadt, in der sie stehen, und können auch nur in dieser Stadt stehen. Sie sind sozusagen eine verkannte Architekturgattung! Die schlechte Bausünde, sprich: der durchschnittliche Schrott, überwiegt allerdings.


STANDARD:  Was wäre das zum Beispiel?

Fröbe: Schlimm ist der Hotelneubau, der anstelle des trotz Denkmalschutzes abgerissenen "Ahornblatts" in Berlin errichtet wurde, einer Ikone der DDR- Moderne. Das zeigt, was passiert, wenn gute Architektur für eine Bausünde gehalten wird und durch lieblosen Mist ersetzt wird. Die Bausünden, die richtig wehtun, sind eher Infrastrukturzustände als Gebäude: Ein düsterer Fußgängertunnel, ein Spielplatz an der Schnellstraße, eine Autobahn direkt neben Wohnhäusern.

STANDARD:  Hat jede Stadt ihre spezielle Art der Bausünde?

Fröbe:  Es gibt gravierende Unterschiede. In Hamburg sind sie am Stadtrand versteckt, in Stuttgart
hinter Glas. Nürnberg hat einen eigenen Stil mit Erkern entwickelt. Meine Lieblingsstadt ist Braunschweig: die rekonstruierte Stadtschlossfassade mit einem Shoppingcenter dahinter und ein kreischbuntes Haus gegenüber. Guter Bausündenspirit!

STANDARD: Vor allem die Bauten der 60er- und 70er-Jahre werden oft als Schandflecke geschmäht. Zu Unrecht?
 
in Heringsdorf auf Usedom

Fröbe:  Es gibt sehr gute Bauten aus dieser Zeit. Heute ist das Wissen darüber verloren, sogar Ikonen der Nachkriegsmoderne sind vom Abriss bedroht. Vieles davon ist einfach nur aus der Mode gekommen. Heute fehlt den Städten die Haltung, man ist traumatisiert von den Großbauten der Nachkriegszeit, hat Angst vor Wutbürgern und traut sich weniger zu. Das meiste ist Rekonstruktion und Pseudoklassizismus.

STANDARD:  Brauchen wir mehr öffentliche Diskussion über Baukultur?

Rizzi-Haus in Braunschweig

Fröbe:  Ich denke schon. Wenn man die Leute nach Bausünden fragt, sind sie schnell beim Antworten, können dann aber kaum mehr als fünf Bauten aufzählen.

STANDARD:  Sie haben auch Privathäuser in Ihrem Buch dokumentiert. Wie unterscheiden sich diese kleinen von den öffentlichen großen Bausünden?


Fröbe:  Bei Wohnhäusern gibt es selten Bausünden, die allein stehen, fast alle ziehen andere nach sich wie ein Echo, weil die Nachbarn nachrüsten. Am deutlichsten sieht man das bei Doppelhaushälften, weil sich die Bewohner da abgrenzen müssen. Dieses Phänomen habe ich "Schizo-Häuser" genannt. Fasziniert hat mich auch, dass bei fast fensterlosen Fassaden das einzige Fenster immer oben rechts angebracht ist - als wäre es dem Bauherren erst ganz am Schluss eingefallen. Einfamilienhäuser würde ich aber generell nicht als Bausünden bezeichnen, eher als Street-Art: Die Besitzer toben sich auf der eigenen Fassade aus.

Augsburg, Wohnhaus ohne Fenster

STANDARD:  Sollte man als Architekturhistorikerin nicht lieber das Wahre, Gute, Schöne suchen statt das Hässliche?

Fröbe:  Als Architekturhistorikerin wäre das natürlich traumhaft! Ich bin aber auch Urbanistin, und als solche sage ich: Wir müssen die Stadt als Ganzes betrachten, auch das, was uns nicht so gut gefällt. Ich habe gemeinsam mit Bewohnern Bauten in Ruhe angeschaut, die sie furchtbar fanden, und danach sagten viele: Jetzt sehe ich das mit ganz anderen Augen! Der liebevolle Blick auf die Stadt ist ein sehr wertvolles Instrument für die Stadtplanung. Es nutzt nichts, sich nur zu ärgern.

Straßenbahnhaltestelle in Hannover

STANDARD:  Sind weitere Dokumentationen geplant? Werden Sie möglicherweise Österreichs Bausündenregister erkunden?

Fröbe: Ich war nur einmal dort, aber mein Mann hat mir neulich ein paar sehr schöne Bilder aus einer österreichischen Kleinstadt mitgebracht. Ich werde also sicher weitersammeln. 

Turit Fröbe, geboren 1971, studierte Kunstgeschichte und Klassische Archäologie in Marburg sowie Europäische Urbanistik in Weimar. Seit 2005 arbeitet sie als wissenschaftliche  Mitarbeiterin am Studiengang Architektur der Universität der Künste Berlin. Ihre fotografische Dokumentation deutscher Bausünden erschien zuerst als "AbreißKalender" und 2012 als  Fernsehreihe "Ein Herz für Bausünden" im ZDF. Ihr Buch "Die Kunst der Bausünde" ist letzte Woche erschienen.
Wohnhäuser in Bremerhaven.
Turit Fröbe, "Die Kunst der Bausünde". € 16,99 / 180 Seiten. Quadriga-Verlag, Berlin 2013

Die Bilder sind dem Buch „Die Kunst der Bausünde“ von Turit Fröbe entnommen.

Nota. 

Haben Sie's gemerkt? Es ist eine Frage der Nomenklatur. Im Deutschen haben wir nunmal den Topos Bausünde. Werfen Sie das Wort ins Gespräch, jeder kennt ein paar: "Uuhh!" Aber dann kommt Streit auf, was im Besondern darunter fällt und was nicht. In Frankreich haben sie diesen stehenden Ausdruck nicht, man müsste sagen un pêché architectural und hinzufügen, was man warum für ein solches hält; und dann wäre man gleich am Kern der Sache, den das Wort Bausünde nur kaschiert: Die Geschmäcker der Menschen sind verschieden, und man kann zwar sehr gut darüber streiten, aber eben nicht mit vernünftigen Argumenten.

Die Geschmäcker sind nicht nur von Person zu Person verschieden, sondern sogar - bei den Personen selbst, nämlich nach Zeit und Umständen. Alle Moden kommen irgendwann wieder, habe ich in den 60er Jahren gemeint, nur ganz bestimmt und Gott sei Dank diese eine nicht: der Geschmack der 50er Jahre! Inzwischen haben meine Augen die Postmoderne überstanden und ich kann manchem Bauwerk aus den Fünfzigern echten ästhetischen Reiz abgewinnen; und sogar, lachen Sie nicht, manchen Intérieurs.

Frau Fröbe ließ irgendwo durchblicken, dass sie das schrille Karstadt-Haus in Braunschweig ganz originell und das Alexa in Berlin recht mutig findet. Ich finde die Hamburger Bunker-Kirche gar nicht so schlecht, man müsste sehen, wie es rundherum aussieht, wahrscheinlich so unerheblich wie alles in Hamburg; da können sie froh sein, dass sie so eine Kirche haben.

Langer Rede kurzer Sinn: Nur auf Deutsch konnte Frau Fröbe ihr Buch schreiben, das wahrscheinlich Furore machen wird. In allen andern Sprachen hätte sie ein Buch darüber schreiben müssen, dass es bessere und schlechtere Architektur gibt und dass die Geschmäcker verschieden sind.
JE 
Berlin-Mitte, Linienstraße  

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