Dienstag, 31. Dezember 2013

Geschmack und Vollkommenheit.


sunnje, pixelio.de

Vollkommen ist ein Ding, das so ist, wie es sein soll.

- Das ist gar keine Definition. Es ist eine zirkuläre Umschreibung. Vollkommenheit ist kein Begriff, sondern eine Idee. Eine Idee ist nur als eine Aufgabe zu veranschaulichen, als Problem - als eine Suche.

Zu suchen ist: jene Qualität, die es ausmacht, dass etwas 'so ist, wie es sein soll'. - Das ist das Materiale.

Oder nicht eher: Wer oder was bestimmt, ob etwas so ist, wie es sein soll, oder anders: mit welchem Recht? - Das ist das Formale.

Zu letzterem: Es ist der Geschmack, der bestimmt, und zwar aus eigener Vollmacht.

Zum ersteren: Das hängt an den Erfordernissen der Zeit. Wenn und wo das Leben durch Zerrissenheit, Unüber- sichtlichkeit, Unsicherheit geprägt ist, wird man Vollkommenheit auf dem Weg zu Ausgleich, Harmonie und Frieden suchen. Wo aber die "Plattharmonischen" herrschen, wie Friedrich Schlegel sie nannte; wo alles ausgeglichen wird, wo nichts aus der Reihe fällt, wo alles korrekt hergeht - da wird man Vollkommenheit auf den Wegen von Ruhestörung und von Ungewissheit suchen; nicht ohne die Einstweiligkeit des eignen Urteils immerhin zu ahnen.

Nehmen wir die materiale mit der formalen Seite zusammen, dann ergibt sich: Ob es zu viel Ordnung gibt oder zu viel Unordnung, ist Geschmackssache; aber die Geschmäcker sind verschieden.


Montag, 30. Dezember 2013

Der Fotograf Català-Roca.

Metaphysische Architekturlandschaft – die Casa Ugalde von Josep Antoni Coderchs in Caldes d'Estrac, gesehen vom grossen katalanischen Fotografen Francesc Català-Roca.
aus nzz.ch, 22. 11. 2013

Kataloniens Meisterfotograf Francesc Català-Roca 
Ein Auge für Häuser
Der Katalane Francesc Català-Roca wurde in den 1950er Jahren zu einem Erneuerer der Architekturfotografie. Eine kleine Ausstellung in Lausanne zeigt kostbare frühe Aufnahmen von Bauten Josep Coderchs, der in diesen Tagen seinen 100. Geburtstag feiern könnte.

von Roman Hollenstein

Mit dem Nachlass des italienisch-schweizerischen Architekten Alberto Sartoris besitzen die Archives de la construction moderne der ETH Lausanne (EPFL) einen veritablen Schatz, von dem die Hochschule immer wieder neue Teile der Öffentlichkeit präsentiert – sorgfältig aufgearbeitet und in kleinen Katalogen dokumentiert. Derzeit sind im Foyer-Obergeschoss des Bâtiment SG gleich zwei Ausstellungen zu sehen, die anhand von Vintage-Prints Hauptwerke Luigi Nervis sowie der «Nueva arquitectura catalana» der 1950er Jahre zeigen. Während Nervis wichtigste Bauten in Originalabzügen verschiedener italienischer Fotografen zugegen sind, wird die Nachkriegsarchitektur Kataloniens mit 68 ebenso schönen wie kostbaren Aufnahmen des wohl grössten Fotografen der spanischen Moderne vorgestellt: des gerne mit Henri Cartier-Bresson verglichenen Katalanen Francesc Català-Roca (1922–1998). Bemühungen um eine filmartige Annäherung an seine Bildsujets weckten früh schon Català-Rocas Interesse an der Architektur, die er jeweils wie ein Kameramann umrundete und so auf ganz neue Weise von der Totalen bis zum Detail zu erfassen wusste.



Die in Fachzeitschriften wie «Architecture d'Aujourd'hui» oder «Domus» sowie in Sartoris' Publikationen veröffentlichten Aufnahmen verhalfen den Architekten des «Grup R», die zwischen 1951 und 1958 in Barcelona das rationalistische Vokabular um organische und regionalistische Elemente bereicherten, zu internationaler Beachtung. Ihre Apartmenthäuser und Villen sollten aber auch den Boden für das katalanische Architekturwunder der 1980er Jahre bereiten, das trotz Bau- und Wirtschaftskrise noch immer – wenn auch etwas gedämpft – anhält. In der EPFL-Schau zu sehen sind das Kino «Fémina» und das Hotel «Park», die Antoni de Moragas als erste moderne Interventionen im Zentrum von Barcelona verwirklichte, das leider längst zerstörte Haus des Verlegers Ignacio Augustí von Josep Maria Sostres in Sitges, die aus einem Sockel mit aufgesetzten Schlafboxen bestehende Casa Guardiola in Argentona, die Oriol Bohigas, der Theoretiker des «Grup R», zusammen mit Josep Martorell errichtete, sowie zwei Arbeiten von Francesc Barba Corsini: der längst rückgängig gemachte surrealistische Dachgeschoss-Umbau von Antoni Gaudís «Pedrera» sowie die grauschwarze, mineralisch wirkende Casa Pérez del Pulgar in Cadaqués.


Im Zentrum der Schau aber steht der bedeutendste Architekt der katalanischen Nachkriegsmoderne, Josep Antoni Coderch, der vor 100 Jahren (am 26. November 1913) in Barcelona geboren wurde und kurz vor seinem Tod im Jahre 1984 noch erleben durfte, wie eine junge Generation seine Bauten neu entdeckte, allen voran die beiden in Zusammenarbeit mit Manuel Valls realisierten Apartmenthäuser im Stadtteil Barceloneta. Der frühere der beiden Bauten zeichnet sich durch unregelmässig gezackte Grundrisse aus, die sich in den mehrfach geknickten, über das rechteckige Sockelgeschoss ausgreifenden Fassaden spiegeln. Damit unterscheidet er sich diametral von der Casa Ugalde in Caldes d'Estrac, die Català-Roca in metaphysischen Aufnahmen festhielt. Die Villen Torrens und Catasús in Sitges hingegen fotografierte er in einer an Julius Shulman erinnernden, fast schon südkalifornischen Bildsprache.


Mit diesen Bauten machte Coderch, der in den 1940er Jahren nebenamtlich als Stadtplaner von Sitges tätig gewesen war, den einst für seine eklektizistischen Ferienhäuser bekannten Badeort zur Geburtsstätte der «neuen katalanischen Villa». In seiner späteren Karriere beschäftigte sich Coderch dann, ausgehend von den frühen Apartmenthäusern, vor allem mit dem Massenwohnungsbau, für den er in den 1960er und 1970er Jahren spannende strukturalistische Lösungen fand. Diese oft preisgekrönten Werke begründeten eine Wohnbau-Tradition, die von allen namhaften katalanischen Architekten bis heute immer wieder mit bedeutenden Beiträgen neu belebt wurde.

 
Bis 11. Dezember im Gebäude SG der EPFL. Kataloge: Architectures catalanes des années 1950. Photographies de Francesc Català-Roca dans la collection Alberto Sartoris. Hrsg. Antoine Baudin. – Pier Luigi Nervi ou l'art de la structure. Photographies de la collection Alberto Sartoris. Hrsg. Alberto Bologna. Beide Bücher: Presses polytechniques et universitaires romandes, Lausanne 2013 (je 104 S., Fr. 23.50). 


Nota.

Die Fotos illustrieren nicht den Artikel. Català Roca ist bei uns kaum bekannt; darum hier noch ein paar Fotos:

 

Sonntag, 29. Dezember 2013

Urbanität - ein ganz neues Thema für die Schweiz.

Modell der Glattalstadt mit Park, bei Zürich

Willst du das Leben verstehen, sagte Kierkegaard sinngemäß, dann halt nach einer berechtigten Ausnahme Ausschau.

Eine berechtigte Ausnahme in Europa ist die Schweiz. Berechtigt, weil sie sich das was hat kosten lassen. Noch vor hundert Jahren war sie das hinterwäldlerische Armenhaus von Mitteleuropa. Dass sie heute feist und selbstgerecht auf uns andere blicken kann, wurde ihr nicht geschenkt. Seinen Preis zahlt sie noch heute. Eine richtige Stadt, die in der Welt für voll genommen würde, haben sie bis heute nicht. Aber wenn einer erzählen könnte, was Zersiedelung bedeutet, dann wären sie es. 

Zürich am See
aus NZZ, 2. 12. 2013

Weniger dörfliche Korsette für die Städte 

Von Joëlle Zimmerli 

Städte sind ein Produkt der Verdichtung. Anders als Agglomerationen oder ländliche Gebiete konzentrieren sie unterschiedliche soziale Welten und breitgefächerte Arbeits-, Versorgungs-, Unterhaltungs- und Wohnangebote auf engem Raum. Das schafft Reibungsflächen und Konflikte, fördert aber auch wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Innovation. Nur: Damit Städte städtisch bleiben, müssen sie auch sich selbst laufend neu erfinden. Da die Aussicht auf kurze Wege, überraschende Begegnungen und neue Möglichkeiten immer mehr Menschen in Städte zieht, bedeutet das vor allem: weiter verdichten.

Dorfplatz Werrikon in Uster


Die NZZ hat mir rückwirkend die Verbreitung ihrer Inhalte untersagt. Ich werde sie nach und nach von meinen Blogs löschen  Jochen Ebmeier


Die Limmat in Zürich


Zürich, Das Baufeld H mit über 45‘000 m2 Geschossfläche Wohn- und Dienstleistungsnutzung, Hotel und Detailhandel


Zürich am See


Der Zürich-See


Joëlle Zimmerli ist Soziologin und betreibt das Büro Zimraum Raum und Gesellschaft in Zürich.

Nota.

"Städte sind ein Produkt der Verdichtung." Stelle dir also vor, es gibt eine Naturkraft namens Verdichtung. Ist sie gut, ist sie böse? Bei einer Naturkraft eine ganz sinnlose Frage. Die Frage ist aber gottlob nicht, ob wir Verdichtung wollen, sondern ob wir Urbanität wollen; die wohlbemerkt einen spezifischen Wert nur hat, solange Nichturbanität vulgo Dörflichkeit der Normalfall ist. Normalfall ist aber leider, das deutet die Autorin an, bei uns wie in Amerika immer mehr die Suburbanität: die Kumulation zweier Übel bei Ausscheidung der jeweiligen Vorzüge.

Mit der Autorin müsste man also argumentieren: Wer Dörflichkeit bewahren will, muss andernorts Verdichtung betreiben.

Es irritiert mich nur, dass Architekten und Bauherren von Hochhäusern auch so argumentieren würden. Nirgendwo sind Ästhetik und Interessen so schlecht zu unterscheiden wie in städtebaulichen Debatten.
JE



am Nordstufer des Zürichsees
aus Das Magazin 51&52/2012

Willkommen in Agglo-City 
Wie kann man die Zersiedelung der Schweiz stoppen? Nur durch mehr Stadt, sagen einige der wichtigsten Schweizer Architekten. Ein Gespräch über Urbanität, Zürichs Zukunft – und eine neue Grossstadt im Glattal.

Nichts sagt so viel aus über ein Land wie die Städte, die es baut. Stadtplanung ist ein Kristallisationspunkt fast aller gesellschaftlichen Entwicklungen und Konflikte. Das gilt in der Schweiz besonders für die Stadt und den Grossraum Zürich. Die Bevölkerungszunahme, die wirtschaftliche Dynamik, die Pendlerbewegungen, die Wohnraumverteuerung, die multikulturelle Durchmischung, die Zersiedelung: All diese Herausforderungen müssen von der Wirtschaftsmetropole städtebaulich bewältigt werden. Wie Zürich sich verändert, das prägt nicht nur den Alltag von über einer Million Bewohnern. Es lässt sich daran auch ablesen, welche Vision die Schweiz von ihrer Identität und ihrer Zukunft hat. Dennoch tut das Land sich schwer mit urbanistischen Debatten. Von Peter von Matt stammt die Beobachtung, die Schweizer Identität werde geprägt durch «das nationale Traumbild vom stadtfernen Volk». Fest steht: Die Schweiz braucht eine Debatte über die eigene Urbanität. Um einen Anfang zu machen, haben wir uns mit drei namhaften Schweizer Architekten mit persönlicher Beziehung zu Zürich im Prime Tower getroffen. Am Tisch sassen Annette Gigon, Architektin des Turmes (zusammen mit Mike Guyer), Daniel Niggli vom Büro EM2N (Toni-Areal und die Viaduktbögen) sowie Markus Schaefer von Hosoya Schaefer Architects. Mit zur Runde gehörte auch Professor Philip Ursprung von der ETH Zürich, der Architekturhistoriker hat viel über Stadtbilder geforscht. In vielem waren sich unsere Gesprächspartner einig, bei der Beurteilung von Zürich-Nord und Zürich-West taten sich aber doch einige Differenzen auf.


Hof imRichti-Areal
Gesprächsleitung: Daniel Binswanger und Finn Canonica
 

Das Magazin — Was ist Schweizer Urbanität?

Philip Ursprung — Im März 2011 habe ich ein Podiumsgespräch veranstaltet mit dem Titel «Ist Zürich eine kleine Grossstadt oder eine grosse Kleinstadt?». Danach hat mir ein Kollege aus New York lachend gesagt: «Wenn du über diese Frage eigens eine Tagung durchführen musst, dann kann ich dir die Antwort jetzt schon geben.» Also: Zürich ist eine grosse Kleinstadt. Es gibt keine Grossstädte in der Schweiz. Dies hat historische Gründe: Die Schweiz war im Unterschied zu den Nachbarländern nie zentralistisch organisiert. Ein urbanes Lebensgefühl, wie wir es aus Paris und London und Berlin kennen, hat sich hier nicht entwickeln können. Wenn so etwas wie das Urbane hier evoziert wird, dann ist es ein Pastiche, etwas, das von Leuten, welche Metropolen besucht haben, heimgebracht wird. Eine Art Karikatur von Urbanität.

Zürich ist provinziell, weil selbst die Zürcher Zürich nicht grösser denken können.

Das Magazin — Ist das ein Problem der kritischen Masse oder mehr der Kulturtradition?

Philip Ursprung — Die kritische Masse ist sicher ein Punkt. Aber auch wenn die Agglomeration Zürich doppelt so gross wäre und zwei Millionen Menschen umfasste: Sie wäre wohl noch immer nicht urban im Sinne einer Metropole.


Der Siedlungsbrei zwischen Greifensee und Flug­hafen Zürich wächst zusammen

Markus Schaefer — Ich finde die spezifische Diskussion interessanter als die generelle, ob Zürich nun Urbanität hat oder nicht. Das ist, wie wenn ich versuche zu entscheiden, ob ich eine grosse Wohnung habe oder nicht. Vielleicht ist sie klein für jemanden mit viel Geld, für jemanden ohne Geld ist sie dafür supergross. Aber was die spezifischen Gegebenheiten einer Stadt sind und wie sie sich in einer urbanen Planungsfähigkeit und auch Repräsentationsfähigkeit ausdrücken, das ist doch interessant. Also müssen wir uns zuerst fragen, wo diese Stadt Zürich überhaupt steht.

Das Magazin — Und, wo steht sie?

Markus Schaefer — Sie steht in einem kleinräumigen, fragmentierten Schweizer Mittelland. Und dazu in einem Land, das auf einer föderalen Grundstruktur basiert, niemand darf riesig werden, das Misstrauen gegen zu viel geballte Macht ist gross.

Daniel Niggli — München, Wien und viele andere europäische Städte haben einen feudalen Kern, und diese Macht hat sich in ihnen auch städtebaulich und architektonisch manifestiert. Zürich dagegen ist gewissermassen ein grosses aggregiertes Dorf. Das beschreibt jedoch nicht zwangsläufig die urbanen oder nicht urbanen Eigenschaften dieser Städte. Urbanität hat viel mehr mit weichen Faktoren zu tun – mit einer lebendigen Subkultur etwa, mit synchronen Aneignungsformen des öffentlichen Raumes oder vielfältigen Nutzungsüberlagerungen. Diese Merkmale sind für mich viel entscheidender. London hat viele Stadtteile, die ich räumlich nicht als grossstädtisch bezeichnen würde, aber das Feeling dort ist trotzdem sehr urban. In Tokio dasselbe. Tokio ist ja nicht per se urban, es ist oft fast dörflich, aber eben ein Dorf mit einer ungeheuren Intensität.


Zürich

Markus Schaefer — Interessant ist, wenn man Zürich und München vergleicht – Zürich hat einen höheren Grad an Globalisierung, wenn man die Recherchen von Peter J. Taylor anschaut. Und das merkt man auch. Man hat in Zürich kulturelle Möglichkeiten auf so kleinem Raum, die hat man in München nicht, obwohl es toller aussieht. Und ich wohne lieber in Zürich als in München, jetzt, zu diesem spezifischen Zeitpunkt.

Daniel Niggli — Gemäss der Soziologin Saskia Sassen ist Zürich ja auch eine Global City und München nicht. Darum umschreibt das bauliche Bild einer Stadt nicht unbedingt auch ihre wirtschaftliche Bedeutung oder ihr kulturelles Leben. Unter Umständen kann also die bauliche Dichte viel weniger grossstädtisch wirken, die Stadt aber dennoch urban sein, weil ihre Räume viel intensiver genutzt werden. Basel, Bern oder Genf sind vom Stadtbild her urbaner als Zürich, aber nicht vom Gebrauch her. Zürich bleibt der urbanste Ort in der Schweiz, weil hier diese programmatischen und kulturellen Überlagerungen am ehesten stattfinden.

Das Magazin — Es gibt also einen Widerspruch zwischen dieser Dynamik, Zürichs hoher Globalisierung, dem hohen Ausländeranteil, der grossen Zuwanderung einerseits und andererseits einem Defizit an städtebaulicher Ästhetik?

Markus Schaefer
— Ich glaube, das sind zwei Punkte, die man hier anschauen müsste. Einerseits: Was ist städtebaulich möglich innerhalb des Stadtraums? Zweitens: Zürich wird immer noch verstanden als Stadt Zürich und nicht als metropolitane Region, die viel grösser ist. Denn sobald man den Gesamtraum interpretieren will, als eine Art gut gemachtes Los Angeles, dann hat man plötzlich eine Urbanität, welche sehr lebenswert ist. Wie man den öffentlichen Park in Japan nutzt, so nutzt man hier den Uetliberg und verirrt sich dabei im Wald. Das ist ja eigentlich genial.


Zürich-Wallisellen,  Richti-Areal, Konradhof, Innenhof

Philip Ursprung
— Ein Bestandteil von Urbanität ist die fortwährende Transformation. Grossstädte zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich ständig verändern. Wenn man Tokio oder New York im Abstand von jeweils zwanzig Jahren anschaut, kann es sein, dass ganze Strassenzüge umgebaut, ganze Quartiere abgerissen und wieder aufgebaut wurden, man aber die Stadt auf Anhieb noch immer erkennt. Und das ist in München oder Zürich, vor allem im Innenstadtbereich, viel weniger der Fall. Aber es stimmt schon, was Markus Schaefer sagt: Wenn man zu sehr auf die Innenstadt fokussiert, was in der Stadtplanung ja häufig der Fall ist, dann vergisst man, dass die Stadt natürlich viel weiter geht. Das Innere ist meistens erstarrt. In der «City» wird das Urbane domestiziert, werden alle störenden Elemente des Urbanen wie Lärm, Verkehr oder Schmutz ausgeschlossen. Gerade in den Aussenbereichen findet das Urbane statt.

Daniel Niggli — Vielleicht ist es genau das, was Zürich so provinziell macht: dass selbst die Zürcher Zürich nicht grösser denken können. Nur schon in Altstetten zu sein ist ein Problem für die meisten Stadtzürcher. Dabei sind das unsere Wachstumsgebiete, weil es langsam sehr teuer wird im Zentrum. Zürich dehnt sich ja bereits seit langem aus, einfach weil der Raum hier so knapp bemessen ist. Nur heisst es dann nicht mehr Zürich, sondern Schlieren. Die politischen Grenzen decken sich ja längst nicht mehr mit der Geografie der funktionalen Räume.

Es ist für einen Stadtarchitekten unmöglich zu sagen, dass auch die Agglomeration ein Teil von Zürich ist – er wäre sozial erledigt.


Wenn die Siedlungsdichte hoch ist, wird die umliegende Landschaft stärker entlastet als bei einer lockeren Besiedlung. Gebäude am Rand von Schwerzenbach im Glattal
 

Das Magazin — Es gab in Zürich den Versuch, Urbanität auch künstlich zu erzeugen. Das Areal um den Schiffsbau hier, wo wir uns grad befinden, das hat die Stadt doch als ultimativ urbane Ecke verkaufen wollen. Man baute Puls 5 und dachte, wenn irgendwo «Loft» steht und man das Ganze mit industriellem Chic garniert, dann ist das städtisch. Die künstliche Urbanität hat aber unserer Meinung nach nicht funktioniert, weil man Urbanität eben nicht künstlich erzeugen kann, wie der Soziologe Henri Lefebvre gezeigt hat.

Philip Ursprung — Lefebvre kritisiert die Urbanisten als diejenigen Akteure, welche die Stadt am Reissbrett entwerfen. Was mich bei Lefebvre besonders interessiert, ist, dass er das Urbane, in seinen Worten «die totale Verstädterung», als einen erstrebenswerten Zustand sieht, der noch nicht erreicht ist. Er kritisiert das Paradigma der industriell geprägten Stadt mit ihren rhythmisierten Häuserzeilen, mit einer klaren Trennung zwischen Stadt und Land, mit ihrer Segmentierung von Wohnen, Arbeiten, Erholung usw. Das ist seiner Meinung nach das Paradigma, welches dominiert und dem eigentlich Urbanen im Weg steht. Urban heisst für ihn, dass die Segregation von gesellschaftlichen Klassen, Kulturen und Sprachen überwunden ist und Differenz zugelassen wird.

Das Magazin — Das ist eigentlich eine Beschreibung der Schweizer Agglomeration.

Daniel Niggli — Genau. Opfikon ist zum Beispiel städtisch, weil es das Ländliche dort praktisch nicht mehr gibt. Wer dort wohnt, geht in eine Shoppingmall, nicht in den Dorfladen. Der Gebrauch grosser Teile des schweizerischen Territoriums ist heute, etwas grob gesagt, grundsätzlich urban. Warum wohnt jemand in der Agglo? Weil er auf dem Land wohnen will? Oder weil es in der Stadt zu wenig Platz hat? Wenn man sich die Zahlen anschaut, stellt man verblüfft fest, dass der Schweizer auf dem Land und in der Stadt im Schnitt ungefähr 1,6 Zimmer bewohnt, Es gibt also in der Schweiz keine nennenswerte Differenz zwischen Stadt und Land, was den Flächenkonsum betrifft. Die Grenzen zwischen Stadt, Land und Agglomeration verschwimmen.


Die Limmat

Philip Ursprung — Es ist gar nicht einfach, diese Frage räumlich zu definieren. Wenn man sich das Abstimmungsverhalten anschaut, wurde zum Beispiel die Minarett-Initiative 2009 in den urbanen Gebieten klar verworfen und in den nicht urbanen angenommen. Ein krasses Beispiel für das Nichturbane, für die Furcht vor den Differenzen, Kontrasten und der kulturellen Vielfalt, die das Urbane mit sich bringt, ist die Gemeinde Dorf im Zürcher Weinland. Es ist ein Ort wie aus dem Bilderbuch mit gepflegten Riegelhäusern, gut ausgebildeten und wohlhabenden Einwohnern. Mehr als 75 Prozent stimmten mit Ja.

Das Magazin — Politisch wird ja gerade dieser mentale Stadt-Land-Graben immer stärker. Das ist mittlerweile die wichtigste Trennlinie, wichtiger noch als der Röstigraben. Aber konkret – warum kann sich der Zürcher nicht gross denken?

Markus Schaefer
— Man hat ja zwei Diskussionen: eine offene und eine verdeckte. In der offenen Diskussion ist es für einen Stadtarchitekten unmöglich zu sagen, dass auch die Agglomeration ein Teil von Zürich ist – er wäre sozial erledigt. Dabei war Zürich Ende der 80er-Jahre eine schrumpfende Stadt, weil die Agglomeration den Familien mehr Raum und Chancen bot. Und die Stadt hatte zu dem Zeitpunkt, als Ursula Koch ihren berühmten Satz sagte, «Zürich ist gebaut», zwei Entscheide getroffen – einen Entscheid gegen eine U-Bahn und den anderen Entscheid für die S-Bahn. Das war ein grundsätzlicher, extrem metropolitaner Entscheid, der einfach nicht so verstanden wurde. Es hiess, man habe sich entschieden, die Peripherie zu erschliessen. Der eigentliche Entscheid aber war, dass die Stadt in die Fläche wächst.

Das Magazin
— Typisch, sehr schweizerisch: Nicht das Zentrum stärken, sondern die Landschaft weiter erschliessen.

Markus Schaefer — Richtig, aber das Interessante daran war, dass es eine Entscheidung zwischen zwei verschiedenen Stadttypen war. Mit einer U-Bahn wäre Zürich in die Höhe gewachsen. Man hat sich aber für eine andere Stadtform entschieden.

Daniel Niggli — Das wirft sofort die Frage auf, welches Bild der Stadt wir brauchen. Muss es immer in die Höhe gehen, damit es sich wie Stadt anfühlt? Sicher, der Prime Tower hat uns dieses Gefühl gegeben, und es funktioniert. Doch ist die Stadt mit ihm urbaner geworden?


Die vertikale Stadt

Ein indischer Architektenfreund fragte bei einem Besuch in Zürich-Nord: «Is this part of the city abandoned?» Also: Ist dieser Teil der Stadt verlassen worden?

Das Magazin — Der Prime Tower ist für Zürich auch extrem revolutionär. Obwohl man in dieser Stadt ja eigentlich keine Gebäude mit Wahrzeichencharakter mag.

Annette Gigon — In Zürich tendieren die Kräfte immer wieder dahin, dass die Stadt gemessen, zurückhaltend, steinern weitergebaut wird. Pointiert ausgedrückt: ein bisschen wie das Zunfthaus zur Meisen, nur in anderen Dimensionen. So auch das Kunsthaus und das Hardturmstadion.

Das Magazin
— Zürich soll eine schöne Boutique sein, das ist der ästhetische Horizont der meisten Politiker.

Annette Gigon — Spektakel kommt in Zürich einfach nicht an. Das haben wir Architekten uns schon so einverleibt, dass wir mit unseren Wettbewerbsvorschlägen sozusagen vorsorglich eine Art Unauffälligkeit miteinplanen, damit man vor einer hiesigen Jury bestehen kann. Aber der unaufgeregte Duktus der Stadt und vieler Architekturen ist mir gleichwohl nicht unsympathisch. Zu viel architektonisches Pathos wirkt mancherorts tatsächlich nur provinziell.

Markus Schaefer — Das Geniale am Prime Tower ist doch, dass er funktioniert, weil er gross und ikonisch ist, ohne dabei frivol zu sein. Und er ist als Ikone bereits angenommen.

Annette Gigon — Das ist erstaunlich, auch für uns. Vielleicht schafft der Prime Tower das auch nur, weil er so materialisiert und geformt ist, dass er auch die naturhaften Elemente rundum mitaufnimmt, das Wetter, die Hügel und Wälder der Umgebung, und nicht nur die Stadt vergrössert und das Urbane mehrt. Er verschwindet zum Teil ja fast vor dem Hintergrund des Grünen. Wahrscheinlich bringt ihm auch der derzeitige Höhenrekord zusätzlich Anerkennung ein.

Wenn sich urbanes Leben nicht als wünschenswert durchsetzt, wird die Agglomeration immer weiter wachsen.


Josefwiese im Kreis 5

Das Magazin
— Urbanität ist etwas, das wir an diesem Tisch positiv beurteilen. Warum lässt sich das in Zürich nicht einfach generieren? Warum ist Zürich städtebaulich nicht urban genug?

Daniel Niggli — Der Prime Tower ist ein Symbol von Urbanität für Zürich. Doch die sonstige Verdichtung führt im Moment vor allem zu mehr Volumen, aber nicht im gleichen Masse zu mehr Menschen, da die zusätzlichen Quadratmeter durch den konstant steigenden Pro-Kopf-Konsum neutralisiert werden. In den 60er-Jahren hatte Zürich 440 000 Einwohner, und jetzt liegen wir bei ca. 390 000. Ich weiss nicht, wie viele Quadratmeter mittlerweile zusätzlich verbaut worden sind. Nur: Wenn alles bloss grösser wird, aber nicht gleichzeitig nutzungsintensiver, dann suggeriert das Gebaute Urbanität wie eine Theaterkulisse oder ein Werbespot.

Das Magazin — Mehr bauen heisst nicht zwangsläufig verdichten?

Daniel Niggli — Es gibt eben bauliche Dichte und Interaktionsdichte. Die Interaktionsdichte ist zum Beispiel in Tokio enorm viel grösser, es leben dort mehr Menschen pro Quadratkilometer. Nur im Rahmen einer solchen Kultur des Öffentlichen entstehen erst dieser vielfältige Austausch, diese ständig wechselnde Besetzung und Aneigung des städtischen Raums. Wir haben in Zürich paradoxerweise tatsächlich zu viel Platz. Ein indischer Architektenfreund von mir aus Mumbai erkundigte sich bei einem Besuch in Zürich-Nord doch tatsächlich: «Is this part of the city abandoned?» Also: Ist dieser Teil der Stadt verlassen worden? Andersherum: In den 60er-Jahren lebten mehr Menschen in der Stadt Zürich, sie fühlte sich aber vermutlich dennoch nicht urbaner an, weil die zwinglianische Gesetzgebung – ein weiterer wesentlicher weicher Faktor – Läden und Restaurants kastrierte.

Annette Gigon
— Es gab zu wenig Diversität und guten Wohnraum für Familien. Wer es sich leisten konnte, Kinder hatte, zog in den 70er- und 80er-Jahren ins Grüne. Inzwischen hat sich der Trend wieder geändert, es gibt eine grössere Wohnungsvielfalt in der Stadt, was mit ein Grund ist, warum das Wohnen in der Stadt wieder beliebt ist.

Markus Schaefer — Interessant ist, dass diese Diskussion der Interaktionsdichte jetzt geführt wird. In den letzten zehn bis fünfzehn Jahren haben wir Architekten einfach die Wünsche von Bauherren umgesetzt. Jetzt hat die Architektengruppe Krokodil, der Daniel angehört, mit ihrem Manifest für die Glattal-stadt eine Diskussion über Interaktionsdichte begonnen und gleichzeitig auch eine über urbanes Bewusstsein. Und jetzt ist es, als würde man aus dem kommerziellen Rausch aufwachen und merken, dass es noch mehr zu tun gibt, als leere Parzellen für die Entwickler zu bebauen.

Daniel Niggli — Ich glaube, der Entscheid ist längst gefallen. Zürich, oder der Metropolitanraum Zürich, ist durch das S-Bahn-System etabliert worden. Es führte dazu, dass die Stadt Zürich räumlich explodiert ist. Und jetzt stellen wir uns die Frage nach dem Bild der Kernstadt und nach der Formqualität der Agglomeration. Muss also Zürich grossstädtischer werden, ikonografisch nach innen verdichtet sozusagen, oder muss die Idee Stadt geografisch expandieren?

Das Magazin — Vielleicht muss man ikonografischer bauen, damit die Menschen sich an urbaneres Denken gewöhnen können?

Niemand kann es sich leisten, eine Brache einfach so sein zu lassen. Ausser man sieht Glarus als Zürcher Brache an.

Daniel Niggli — Da bin ich mir nicht sicher. Ich wurde mal gefragt, ob das Toni-Areal zu einem urbanen Katalysator in Zürich-West werden kann. Ich glaube jedoch nicht, dass es diese Rolle spielen kann, da es rundherum keine freie Masse mehr gibt, die aktiviert werden könnte. Wenn man dagegen in East London so was macht, dann beginnt sich das Urbanisierungsrad in Form von Nischennutzungen zu drehen, das humane und räumliche Potenzial ist da. In Zürich-West geht das nicht. Die Parzellen sind schon besetzt und meist zu gross. Vor sich hin schlummerndes Potenzial wird man nur noch finden, wenn Zürich expandiert.

Markus Schaefer — Das ist eines der Hauptprobleme, die mich und meine Frau, die auch Architektin ist, fast zum Ersticken gebracht haben, als wir zurückkamen aus den USA, Holland und Japan. Und zwar der Punkt, dass diese Diskussion gar nicht möglich war. Ich persönlich betrachte zum Beispiel Zürich-West als verpasste Chance. Es gibt gute Einzelprojekte, aber das Gebiet als Ganzes ist erstaunlich wenig geplant. Eigentlich ist es eine Privatinitiative, welche zu einem Masterplan aufgeblasen wurde. Die Tatsache, dass das Toni-Areal nicht als Katalysator funktionieren kann, liegt an den grossen Parzellen. Und die Stadt konnte das nie ändern.


Toni-Areal

Annette Gigon — Es bräuchte «Planungslücken», Brachen, um auf weitere Entwicklungen reagieren zu können und einer vollständigen Gentrifizierung entgegenzuwirken. Manchmal erfüllen auch Altbauten, die wenig Renovierungsbedarf haben, diese Funktion ein Stück weit, wie hier auf dem Maag-Areal die ehemaligen Industriebauten oder die alten Brauereigebäude auf dem Löwenbräu-Areal.

Philip Ursprung — Der Begriff der Brache ist untrennbar mit Urbanität verbunden. Die Brache, das «terrain vague», ist ein Ort, der nicht klar definiert ist, an welchem zwei ökonomische Regimes kollidieren oder einander überlappen, zum Beispiel nicht mehr benötigte Militärareale oder abgebaute Fabrikareale. Brachen sind Orte, deren Wert noch nicht bestimmt, deren Zukunft offen und an denen für eine bestimmte Zeit alles möglich ist. Für eine Stadt sind Brachen wichtig. Diese Brachen waren in Zürich-West eine Zeit lang vorhanden, nun sind alle besetzt. Damit verliert das Gebiet aber auch an Urbanität, es wird monoton und statisch, weil es sich nicht mehr in einem urbanen Transformationsprozess befindet. Richtige Grossstädte enthalten stets Brachen, weil derart viele Kapitalströme umgewälzt werden, dass stets von neuem was zusammenbricht und eine Brache hinterlässt. Vielleicht ist Zürich hier wieder zu klein, um dies auszuhalten. Niemand kann es sich leisten, eine Brache einfach so sein zu lassen. Ausser man sieht Glarus als Zürcher Brache an. Es gibt ja überall diese «shrinking cities». Auch die Einfamilienhaus-Teppiche werden in den nächsten Jahren schrumpfen, und dann ist vielleicht die Umgebung um Neuenburg oder Chur plötzlich Brachland. Ein weiterer Punkt ist das zeitliche Element. Im «terrain vague» stossen verschiedene Zeitlichkeiten aneinander, es kommt zu Anachronismen. Brachen verkörpern deshalb auch eine Art urbanes Gedächtnis. Aber gerade die zeitliche Dimension wird in Zürich immer wieder getilgt, als ob die Erinnerung verdrängt werden sollte. An New York fasziniert mich, dass die Stadt ein sichtbares Gedächtnis hat. Berlin ebenfalls. Dort gibt es Kopfsteinpflaster unter dem Asphalt, Risse im Putz, Rost an den Brücken, Eckkneipen, die seit Jahrzehnten bestehen. Zürich dagegen löscht die Erinnerung ständig, versiegelt die Oberflächen, es gibt alle drei Meter einen blitzblanken Mülleimer.

Daniel Niggli — Zürich wird vielleicht Opfer seines wirtschaftlichen Erfolgs werden. Irgendwann ist fertig gentrifiziert. In Zürich-West werden jetzt die ehemaligen experimentellen Spielräume besetzt – ich denke da auch an das Maag-Areal oder das Toni-Areal – und durch hochpreisigere Angebote ersetzt. In New York, London oder Berlin gibt es so viele Brachen, da kann die Subkultur gewissermassen wandern. In Zürich dagegen ist das Angebot endlich und einfach zu teuer.

Das Magazin — Und man hat nicht diese endlose Anzahl an Vierteln, welche sozusagen kolonialisiert werden können.


Toni-Areal
 

Daniel Niggli — Ja. Allerdings ist Gentrifizierung für mich an sich kein ideologisches Problem und gehört zum Lebenszyklus jeder Stadt. Ausser die Stadt ist zu klein für solche dynamischen Veränderungs- und Verdrängungsprozesse. Und Zürich- West hat ein Problem der grossen Parzellen. An die Stelle multifunktional nutzbarer, preisgünstiger Industriebrachen treten grosse monofunktionale Häuser für unsere Pensionskassen. Deshalb mein Plädoyer, Zürich grösser zu denken, nicht zuletzt auch dieser niederschwelligen, nutzungsoffenen «Brachen» wegen. Ich bin froh, dass etwa die Künstler Peter Fischli und David Weiss sich für ihr Atelier Dietlikon aussuchten. Dass weltbekannte Künstler in die «Agglo» ziehen, macht die Stadt doch bereits grösser.

Das Magazin — Und es könnte dort ein Cluster entstehen, wo man etwas hineinsetzen kann, sodass die Stadt auch von aussen nach innen wächst.

Daniel Niggli — Ja. Für die Glattalstadt etwa haben wir vorgeschlagen, dass man das Unispital nach Dübendorf verlegt. Das wäre mal ein potenter Katalysator! Bekanntlich hat sich der Regierungs- und Stadtrat jedoch für den Verbleib des Unispitals in der Stadt entschieden.

Annette Gigon — In diesem Punkt bin ich anderer Meinung. Ich denke doch, dass das Wachstum in Zürich nicht so ungestüm vorangeht wie in asiatischen Städten und dass es darum ausserhalb des Zentrums von Zürich noch lange an baulicher Dichte mangelt, auch dass man diese ganz langsam erzeugen sollte. In Spreitenbach hat man ja schon vor Jahrzehnten Hochhäuser gebaut, die haben aber nicht bewirkt, dass Zürich schon dort beginnt. Auch die Satelliten ETH Hönggerberg und Uni Irchel haben nicht zur Urbanisierung beigetragen, nur zur Entflechtung. Infrastrukturbauten ebenso wie Hochhäuser können nur Urbanität erzeugen, wenn sie am richtigen Ort stehen und städtische Freiflächen für die Öffentlichkeit erzeugen.


Zürich; ein Modell 

Das Magazin — Markus Schaefer hat betont, dass die Architekten einfach ausführen, was die Entwickler wollen. Ein weiterer Punkt ist sicher das baugesetzliche Umfeld. Annette Gigon sagt, man müsse geduldig daran arbeiten, die Dichte langsam erhöhen. Wie müsste man das machen? Wo sind die Hindernisse?

Markus Schaefer
— In der Stadtplanung hat man immer Zeitfenster, in denen strategische Entscheide sorgfältig gefällt werden müssen. Einer davon ist die Blockgrösse, die Parzellengrösse. Man muss bei der Umnutzung eines Industrieareals, was in Zürich-Nord und -West meines Erachtens nicht funktioniert hat, die Blockgrösse runterbrechen.

Wenn die Siedlungsdichte hoch ist, wird die umliegende Landschaft stärker entlastet als bei einer lockeren Besiedlung. Gebäude am Rand von Schwerzenbach im Glattal (oben) und in Zürich-West.

Das Magazin — Man müsste kleinere Blockgrössen haben?

Markus Schaefer — Ja, und auch kleinere Zeiträume vielleicht. Es muss nicht immer ein Minergie-Haus sein, das hundert Jahre hält. Vielleicht reicht es, wenn man mal für zehn, zwanzig Jahre baut.

Daniel Niggli
— Man verändert zwar die Stadt räumlich, aber nicht strukturell. Sie wird lediglich fetter. Die Häuser werden grösser, dicker, kompakter.

Die Diskussion um die Dämmung von Bauten ist paranoid. Sie zeugt von der Angst vor dem Verlust von Energie, Ruhe und Platz.

Annette Gigon — Wir können klagen über Energievorschriften, die uns dicke Wände diktieren, unsere Gestaltungsfreiheiten einengen, schliesslich Raum wegnehmen und die Baukosten erhöhen. Aber das Energie- und Nachhaltigkeitsthema ist gesetzt, auch für die nächste Generation.

Das Magazin — Wir könnten doch kleinere Räume bauen mit dünneren Wänden.

Annette Gigon — Wir können hierzulande nicht wie in Japan bauen. Einen hohen Energieverbrauch von Gebäuden mit erhöhter Personenbelegung von Wohnflächen aufzuwiegen ist illusorisch. Zehn- bis fünfzehnfache Faktoren sind hier im Spiel. So dicht kann man gar nicht wohnen, wie man mit Isolierungen Heizkosten einsparen kann. Da kommt neben den energetischen Zielen und Vorgaben auch ein kulturelles Problem hinzu. Wir Schweizer haben nicht die gleiche Disziplin und introvertierte Strenge wie die Japaner. Wir brauchen mehr Wohnraum und auch mehr Aussenraum, um uns nicht eingeengt zu fühlen. Es ist eine Stadtvorstellung mit grösserer Dichte und gleichzeitig Frei- und Grünräumen nötig, die wir sukzessive implementieren müssen.

Das Magazin — Sie haben vorhin, als Markus Schaefer über Zürich-West sprach, den Kopf sanft geschüttelt.



Zürich-West mit Prime-Tower, ganz links

Annette Gigon — Ja, weil ich natürlich nicht der Meinung bin, dass Zürich-West gescheitert ist. Im Gegenteil. Die Entwicklung ist noch voll im Gange. Vielleicht gelingt es hier in Zürich-West sogar, einen zweiten Pol zum Stadtzentrum zu etablieren. Dicht ist es bisher punktuell entlang der Hardbrücke, wo noch vor zwanzig Jahren nur eine tote Brache war. Die Zürcher Hochschule der Künste im Toni-Areal wird einen wichtigen Beitrag dazu leisten, das Löwenbräu-Areal ebenso. Spannend sind auch die Viaduktbögen, sie sind ein wichtiger Teil für Zürich, vielleicht das liegende Äquivalent zum Prime Tower.

Markus Schaefer
— Vielleicht sollten wir auch über Zürich-Nord sprechen. Zürich-Nord war ja sozusagen zehn bis fünfzehn Jahre früher in diesem Prozess drin. Ist das ein Erfolg?

Annette Gigon — Zürich-Nord hat bislang nicht dasselbe urbane Potenzial entfalten können, wie wir es von Zürich-West erwarten. Wahrscheinlich weil es weniger öffentliche Nutzungen hat, viele privat genutzte Erdgeschosse besitzt und weil es noch weiter weg vom Zentrum liegt. Darum vermute ich auch, dass die bestehenden Hochhäuser in Zürich-Nord nicht dieselbe katalytische Wirkung haben können wie der Prime Tower, welcher die Chance hat, neben dem Bahnhof Hardbrücke zu stehen. Trotzdem ist die Entwicklung in Zürich-Nord im Sinne eines polyzentrischen Zürich begrüssenswert.

Daniel Niggli — Zürich-Nord hat wohl auch ein Problem zu grosser und unflexibler Parzellen. Aber vielleicht täuschen wir uns, und in zwanzig Jahren sieht alles wieder anders aus.

Annette Gigon — Patrick Gmür, der Direktor des Zürcher Amtes für Städtebau, nannte anlässlich eines Vortrags an der ETH eine theoretische Zahl von achtzehn Millionen Quadratmetern Nutzfläche, die auf Stadtgebiet bei der heute geltenden BZO, der Bau- und Zonenordnung, geschaffen werden könnten. Ausgehend vom jetzigen Bevölkerungswachstum könnte man noch auf Jahrzehnte hinaus Menschen Wohnraum bieten.

Das Magazin — Aber viele Schweizer denken ja das Gegenteil. Dabei ist beispielsweise Holland wesentlich dichter bewohnt. Aber die meisten Schweizer haben das Gefühl, es sei schon eng bei uns.


Zürich

Philip Ursprung — Die Rede von der Begrenztheit einer Ressource ist ideologisch. Den Schafen ist eigentlich egal, wo der Zaun steht. Es gibt einen guten Spruch vom ehemaligen Chef der OPEC aus den 80er-Jahren: «Die Steinzeit endete nicht aus Mangel an Steinen, und das Ölzeitalter wird zu Ende sein, lange bevor das Öl aufgebraucht ist.» – Das heisst, die Behauptung der Ressourcenknappheit ist immer auch politisch und ökonomisch bedingt. Ich denke, das gilt auch für die Behauptung, dass es zu wenig Raum gebe. Es kommt immer darauf an, wer wie viel Raum beansprucht und wer von dieser Ressource profitieren kann. Mir erscheint beispielsweise die aktuelle Diskussion um die Dämmung von Bauten fast paranoid. Sie zeugt von der Angst vor dem Verlust von Ressourcen, von Energie, Ruhe, Platz etc. Aber die Diskussion endet bei der Heizrechnung. Sie übersieht, wie viele Ressourcen es braucht, Dämmstoffe herzustellen, und was es kostet, vom gedämmten Heim zum gedämmten Büro zu pendeln. Dieselbe Kurzsichtigkeit herrscht bei der Diskussion um die Stadtplanung. Wir sprechen von Basel und blenden aus, dass die meisten Arbeiter aus dem Elsass anreisen, wir sprechen von Genf und übersehen die französischen Nachbargemeinden. Und wir reden nicht über Neuenhof und Spreitenbach, wenn wir über Zürich reden. Diese Urbanismus-Diskussion bunkert sich sozusagen in den alten Stadtwällen ein, verbeisst sich in den dicken Wänden, den dicken Autos. Dies ist problematisch, weil nicht alle sich diese dicken Wände leisten können.

Markus Schaefer — Für mich bleibt die grosse Frage, ob wir die Stadt nicht anders denken können. Interaktion ist die zentrale Grösse einer Stadt, und dazu brauche ich weder eine Riesenwohnung, schon gar nicht ein Riesenauto und auch keinen Vorgarten mit Sitzplatz. Ich kann in der Stadt auch anders leben.

Daniel Niggli — Noch zu den erwähnten achtzehn Millionen Quadratmetern: Man könnte die bis 2050 vielleicht noch bauen, die Stadt wird dann aber unter Umständen nicht einmal mehr Einwohner haben als 1960. Ein Nebeneffekt des in der BZO schlummernden Verdichtungspotenzials ist, dass immer preisgünstige alte Substanz durch teure neue ersetzt werden muss. Dieser wirtschaftliche Druck der Erneuerung führt zu steigenden Mieten und einer Stadt, die zwar komfortabler und teurer wird, aber wiederum nicht unbedingt dichter besiedelt. Es soll hier aber nicht nur um die Stadt Zürich gehen. Einig sind wir uns ja, dass verdichtet werden muss. Die eigentlichen räumlichen Probleme liegen aber nicht im Zentrum von Basel, Zürich oder Genf. Was passiert in den Speckgürteln um die grossen Kernstädte herum? Das Glattal hat eine unglaubliche Dynamik, es ist ein Wahnsinn, was in den letzten vierzig Jahren dort gebaut worden ist.

Das Glattal hat eine unglaubliche Dynamik, es ist ein Wahnsinn, was in den letzten vierzig Jahren dort gebaut worden ist.

Annette Gigon — Ihr habt ja mit eurem Manifest für eine Glattalstadt ein Tabu angerührt, nämlich planerisch verschiedene Dörfer zu einer Stadt gebündelt. Und zwar dort, wo noch ein Dorfbrünneli neben dem alten Bauernhaus steht und ein Maximum an sentimentaler Wirkung auf uns Schweizer ausübt, wo man sich als Bewohner auf dem Land wähnt, aber die Garage, der Wohnblock und der mittelgrosse Industriebetrieb gleich daneben liegen. Das sind die Orte, die Gebiete, denen infolge der Glattalbahn, der nahen Flughafens und der jungen Brache des Militärflugplatzes heftige Entwicklungsschübe bevorstehen und wo sich das Wachstum so unkontrolliert, heterogen und immer wieder auch hässlich zeigt. Ein schwieriges Unterfangen, hier anstelle einer unkontrollierten Verstädterung eine geordnete Urbanisierung vorzuschlagen.


Zürich-Wallisellen, Zwicky-Areal; Modell

Daniel Niggli — Mit der Vision «Glatt! Manifest für eine Stadt im Werden» wollte die Architektengruppe Krokodil, also Boltshauser Architekten, EM2N, pool Architekten, Frank Zierau und Schweingruber Zulauf, am Beispiel des Glattals aufzeigen, wie die Agglomeration zur Stadt von morgen werden könnte, nach dem Motto: Wer die Landschaft liebt, muss auch ihr Gegenstück, die Stadt, lieben! So eine Stadtvorstellung ist per se eine Collage. Drei Grundannahmen waren dabei zentral: die räumliche Konzentration der Siedlungsentwicklung mittels Geschossflächentransfer, die Schaffung urbaner Vielfalt und der Verzicht auf Tabula rasa. Um allfälligen Missverständnissen vorzubeugen: Der vorgeschlagene Gesamtplan erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Er ist eine mögliche idealisierte Behauptung.

Das Magazin — Hat etwas Ähnliches nicht auch schon das ETH Studio Basel gemacht?

Daniel Niggli — Das Studio Basel war der Auslöser für die Renaissance einer breiten öffentlichen Diskussion über Raumplanung in diesem Land. Die schönen Karten mit wolkigen roten Kerngebieten und grünen stillen Zonen waren aber alles in allem doch recht unkonkret und unverbindlich. Wir wollten jedoch nicht in Abstraktion verharren, sondern am konkreten Beispiel über die Gesellschaft von morgen, die Rolle der Planung, Nutzung der Ressourcen, Bereitstellung von Infrastrukturen, Szenarien der Verdichtung, Themen der Nachhaltigkeit, neue Formen der Landschaft und natürlich die daraus resultierenden politischen Konsequenzen diskutieren.

Markus Schaefer — Das Grundproblem, das ich mit dem Glattalstadt-Projekt habe, ist, dass ihr eine Strukturdiskussion zu führen versucht mit den Werkzeugen des Masterplans. Aber ich sehe schon das Problem – ihr seid gezwungen, das zu tun, weil sonst niemand bereit wäre, diese Diskussion zu führen. Die Kantonsplanung macht es nicht, weil das eh viel zu riskant wäre. Das ETH Studio Basel hat Grundlagen geschaffen, kam aber nicht wirklich über die sehr generellen Aussagen hinaus, die sie gemacht hatten. Auch das NSL, das Netzwerk Stadt/Land, das noch immer sehr stark von den Architekten und ihrem eher gestalterischen Denken geprägt ist, hat es noch nicht geschafft, eine Strukturdiskussion zu lancieren. Das heisst, wir haben ein Vakuum, genau in diesem Bereich. Und ihr habt den fast winkelriedartig besetzt.


Jean Tinguely, Heureka am Ufer des Zürich-Sees

Daniel Niggli — Ja, wir kommen jetzt an die Grenzen mit diesem Projekt. Ob sich so eine Agglomeration räumlich neu ordnen lässt, ist vor allem eine politische Frage. Das hat mit der Überwindung von politischen Grenzen zu tun. Das passiert in Ansätzen auch. Die Glattalbahn hat tatsächlich dazu geführt, dass die Gemeinden räumlich und mental zusammenwachsen und ein Bewusstsein entwickeln, dass sie eigentlich eine grössere städtische Körperschaft sind. Im Dorf fährt normalerweise kein Tram! Mit diesem Verständnis müssten wir im Grunde viel präziser planen.

Das Magazin — Okay, es ist eine tolle Arbeit, dann hat man dieses schöne Buch in der Hand, und wie geht es dann weiter? Geht man zu den Gemeindepräsidenten und versucht, sie davon zu überzeugen? Was ist der Lohn eures langen Nachdenkens?

Daniel Niggli — Vielleicht war es eine Don-Quijote-Aktion. Aber wir mussten es einfach machen, in Ausübung unserer staatsbürgerlichen Pflichten sozusagen.

Das Magazin — Was sagen denn Politiker dazu?

Daniel Niggli — Sagen wir es so : Es hat schon dazu geführt, dass es in gewissen Fällen politische Vorstösse gegeben hat. Uster steht sehr dahinter, die Stadt hat ja Einwände gemacht im kantonalen Richtplan, dass man Korridore sichert für die Infrastruktur. Natürlich wurde die ganze Diskussion jetzt auch aktuell bei der Kulturlandinitiative.

Markus Schaefer
— Was ich sehr schön finde an eurem Projekt, ist die Tatsache, dass es einen zwingt, die Glattalstadt zu sehen. Wer das nicht kann, ist auch nicht in der Lage, in städtischen Strukturen zu denken. Als politischer Anstoss kommt das Projekt haargenau im richtigen Moment.

Daniel Niggli — Im Grunde ist das, was dort vor den Toren Zürichs stattfindet, ein extrem dynamischer, aber unkontrollierter Stadtwerdungsprozess. Im Glattal, aber auch im Limmattal. Jetzt wäre noch ein Zeitfenster offen, um die richtigen Pflöcke für eine grössere Idee einzuschlagen. Später kann man nur noch aufräumen und reparieren.

Philip Ursprung — Man kann sich fragen, was die Wirkung eines solchen Manifestes ist. Im 20. Jahrhundert waren Manifeste wahrscheinlich viel einflussreicher als heute. «Achtung: Die Schweiz» von Max Frisch, Lucius Burckhardt und Markus Kutter hat sicher die Expo 64 geprägt und die Diskussion über Infrastruktur bewegt. Die Expo 02 war schon viel begrenzter in ihrer Wirkung. Und heute sind die Einflussmöglichkeiten solcher architektonischer Manifeste geringer geworden. Der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumprecht hat dazu eine schöne Kolumne geschrieben. Sein Argument war, dass wir uns an der Schwelle vom politischen zum postpolitischen Zeitalter befinden. Es sei kaum noch möglich, in einem längeren Zeithorizont zu planen. Wir hätten keinen Zeithorizont mehr, weder in die Zukunft noch in die Vergangenheit. Wir könnten nicht wirklich sagen, ob es den Euro in zwölf Monaten noch gibt oder nicht. Analog dazu denke ich: Wir können nicht wissen, ob Zürich in sieben Jahren weiterhin wachsen oder schrumpfen wird.

Markus Schaefer — Das Schöne am Glattal-Projekt ist aber, dass es weiter geht als ein Manifest. Obwohl es als solches bezeichnet wird. Es ist viel ausgearbeiteter, fast schon ein Richtprojekt für eine Stadt.

In ihrer Studie «Glatt!» bündeln die Architekten der Gruppe Krokodil verschiedene Orte zu einer Grossstadt. Sie wollen so auch in der Agglomeration Urbanität und Dichte entstehen lassen, wo man sich als Bewohner heute noch irrtümlich wie auf dem Land fühlen könnte. 


Viaduktbögen im Zürcher Kreis 5
 

Das Magazin — Eine kleine Zusammenfassung: Es gibt einen Konsens bezüglich der Intervention an den Rändern. Annette Gigon sagt, dass es in der Stadt Zürich einen Verdichtungsprozess geben wird über die nächstes zehn, zwanzig Jahre. Man könne ihn sich spektakulärer wünschen, aber er erfülle seine Funktion.

Markus Schaefer — Aber wir müssen lernen, zeitlich gestaffelt zu denken. Es kann schon sein, dass wir noch achtzehn Millionen Quadratmeter in der Stadt Zürich verbauen können. Aber man sollte nicht vergessen, dass es immer teurer wird, je näher man an diesemLimit ist. Das ist wie bei der Ölförderung, die letzten eine Million Liter sind teurer als die erste Million. Darum ist eine Strukturdiskussion auf hohem Niveau immer nötig.

Annette Gigon — Also diese genannten achtzehn Millionen Quadratmeter werden vermutlich auch nicht eins zu eins umgesetzt werden können bei geltender BZO. Es wird theoretische Ausnutzungsreserven geben, welche man bereitstellen kann. Umso mehr muss diese Strukturdiskussion geführt werden. Auch im Hinblick darauf, dass die heutige Gesetzgebung nicht für immer und ewig festgeschrieben ist. Man hat anscheinend beim Amt für Städtebau bereits damit begonnen, an einer neuen BZO-Revision zu arbeiten. Diese wird das Regelwerk für eine zusätzliche Verdichtung in Zürich abgeben.

Das Magazin
— Was wir von Ihnen, Frau Gigon, auch gehört haben, ist, dass man höher bauen sollte, dass das eine der wesentlichen Ressourcen ist, welche mehr genutzt wird und genutzt werden sollte.

Annette Gigon —Man kann Dichte tatsächlich auch mit hohen Häusern erzeugen und nicht nur mit Hochhäusern. Hinter der Sihlpost beim Hauptbahnhof, zwischen der Lagerstrasse und der künftigen Europaallee, entsteht derzeit ein neuer Stadtteil, wo die Parzellen sogar eine noch höhere Ausnutzung haben als die Parzelle des Prime Tower. Es sind mit 29 Metern rechtlich gesehen ebenfalls Hochhäuser, aber sie haben nicht diese Anmutung. Innerhalb von 25 Metern Höhe, also sieben Geschossen, müssen die Bauten nicht den strengeren Baugesetzen gehorchen, die Hochhäuser erfüllen müssen. Die Zwei-Stunden-Schatten-Regelung ist zum Beispiel so eine verschärfte Norm hier in Zürich. Sie besagt, dass Wohnbauten- und Wohnparzellen nicht vom Zwei-Stunden-Schattenkegel eines Hochhauses betroffen sein dürfen. Das ist keine grundsätzlich unsinnige Regel, aber eine Erschwernis, die an manchen Stellen eine vernünftige Verdichtung verhindert. Das Limmattal wird man sukzessive weiter urbanisieren können, bis man in Spreitenbach ankommt. In Gebieten wie dem Glattal sind wir gefordert, Modelle zu entwickeln, wie es jetzt die Gruppe Krokodil begonnen hat.

Das Magazin
—In der Schweiz gibt es diese Tradition von Widerstand gegen die Stadt als Zentrum, es gibt diesen ausgeprägten antiurbanen Reflex.

Daniel Niggli — Das finde ich ja gar nicht so schlimm. Sogar Zürich muss eine eigene spezifische Urbanität entwickeln, damit es immer noch Zürich bleibt. Andererseits werden das Limmattal und das Glattal durch die laufenden Verstädterungsprozesse auch einem mentalen Transformationsprozess unterzogen werden. Das Gefühl des autonomen Dorfes vor der grossen Stadt, obwohl längst Teil einer grösseren metropolitanen Stadtstruktur, wird nicht zuletzt durch urbane Projekte wie die Glattalbahn relativiert.
 

Uster im Glattal

So könnte die Agglomeration im Glattal zu einer Stadt werden, die sich klar von der Landschaft abgrenzt und sich durch Verdichtung gegen Zersiedelung wendet. Die Orte Bassersdorf, Dietlikon, Dübendorf, Greifensee, Kloten, Opfikon-Glattbrugg, Schwerzenbach, Uster, Volketswil, Wallisellen und Wangen-Brüttisellen werden durch gezielte bauliche Ergänzungen, Infrastrukturen, Grünräume und identitätsstiftende Plätze zur Glattalstadt verbunden.

Das Magazin
— Das ist ja ein gegenseitiges Problem. Wir hartgesottenen Stadtzürcher wollen nicht denken müssen, dass Uster auch zu Zürich gehört, und umgekehrt.

Daniel Niggli
— Ich meine, Zürich würde sich schon gern grösser denken wollen. Es gibt da allerdings noch extreme politische und kulturelle Abwehrreflexe. Und die Stadt Zürich müsste dann natürlich auch Zentrumsfunktionen wie das Unispital oder ein Fussballstadion etc. auslagern … das tut noch weh. Das einzig Utopische an der Glattalstadt ist, dass wir versuchen klarzumachen, dass das Glattal schon heute eine Stadt vor der Stadt ist. Und natürlich folgt daraus, dass man dann entsprechend dort Dichte erzeugt, wo die Infrastrukturen und das Erschliessungspotenzial bereits vorhanden sind. Das ist auch eine Frage der Konzentration von Ressourcen. Also nicht unbedingt die Oberlandautobahn bauen oder den S-Bahn-Takt bis nach Schaffhausen noch weiter erhöhen.

Das Magazin — Aber dass wir das machen, ist eigentlich typisch föderalistisch. Wir haben in den 60er-Jahren gemeint, jedes Bergdorf müsse noch einen Autobahnanschluss haben.

Daniel Niggli — Das wird spätestens dann nachlassen, wenn es der Schweiz vielleicht einmal nicht mehr so gut geht. Wir können doch nicht unsere Infrastrukturen nach dem Giesskannenprinzip immer noch feiner verteilen, wenn die Kassen knapper werden. Wir führen heute schon sehr kontroverse Diskussionen über den Finanzausgleich und Zentrumslasten.

Das Magazin
— Zum Schluss nochmals die Frage nach dem individuellen Wohnraum. Der Vergleich mit Japan lag ja in der Luft. Glaubt ihr, man muss diesen Verbrauch irgendwann mal herunterfahren? Bei Ihnen, Frau Gigon, bin ich nicht ganz sicher, ob Sie der Meinung sind.


Hof im Richti-Areal

Annette Gigon — Tokio mit seiner mehrheitlich dreigeschossigen Bauweise und extrem kleinen Parzellierungen ist ein Phänomen, aber es taugt nicht als Vorbild für eine Verdichtung hier in Zürich. Man muss bezüglich der Wohnflächen wirklich differenzieren. Nicht in jeder Lebenslage braucht man gleich viel Platz. In Zürich ziehen anscheinend gegen 80 ooo Personen pro Jahr um, fast ein Viertel der Bevölkerung passt sich so einer veränderten familiären oder beruflichen Situation an. Ich plädiere für eine Durchmischung verschiedener Wohnangebote. Grössere Wohnungen hatten noch vor fünfzehn Jahren Seltenheitswert. Befreundete mittelständische Familien suchten jahrelang nach solchen Wohnungen oder zogen weg. Auch die Ersatzbauten für die Stiftung Wohnungen für kinderreiche Familien am Bucheggplatz, die wir erstellen konnten, bieten heute mehr Zimmer an als die zuvor bestehenden Häuser, wo zwei bis drei Kinder ein Zimmer teilen mussten. Es ist wichtig, dass nicht alle Vierzimmerwohnungen 150 oder 120 Quadratmeter gross sind, damit sich in der Stadt auch jene Leute eine Wohnung leisten können, die weniger dafür bezahlen wollen und können.

Daniel Niggli — Die Ökonomie ist heute die Metadisziplin. Wir können die Ökonomie nicht schlagen. Das kann auch die Stadt nicht ... Ich denke, der ökonomische Druck wird dazu führen, dass neue Wohnmodelle und Wohnformen entwickelt werden. Ich glaube nicht, dass wir einfach 120 Quadratmeter grosse 4-½-Zimmer-Wohnungen verbieten können. Es braucht ökonomische Anreizmodelle. Die Stadt hat ja schon längst mögliche Steuerungsinstrumente: Mit der an sich sinnvollen Abgabe von städtischem Land an Genossenschaften könnte man aber gleichzeitig mehr Gegenleistungen einfordern, wenn man das Bauland schon verbilligt abgibt. Man könnte beispielsweise einen minimalen Gewerbeanteil fordern, sodass eine gewisse Nutzungsdurchmischung entsteht. Die Projekte der Genossenschaft Kraftwerk sind wegweisend mit ihren Cluster- und Kleinstwohnungen, Gewerbeflächen und Gemeinschaftsnutzungen. Und es gibt Städte, in denen private Investoren verpflichtet werden, einen gewissen Anteil an günstigem Wohnraum anzubieten. Ausnützungsboni könnten an solche Modelle gekoppelt werden, um günstige Wohnungen, aber auch Gewerberäume zu ermöglichen.

Annette Gigon — Mit derzeit 25 Prozent kommunalem und genossenschaftlichem Wohnungsbau besteht in Zürich ein wichtiges Korrektiv. Das hat nicht jede Stadt. Und die vom Volk angenommene 30-Prozent-Initiative zur Erhöhung dieses Anteils verstärkt die Steuerungsmöglichkeiten künftig nochmals.


Park in Zürich

Daniel Niggli — Ein Korrektiv bei den zu teuren Wohnungen wird es ohnehin geben. Wenn Investoren Wohnungen nicht mehr absetzen können, werden sie billigere bauen. Aber ich glaube, eine gewisse Steuerungsfunktion hat die Stadt durch diese 30-Prozent-Initiative tatsächlich erhalten. Doch sollte sich dieser Auftrag nicht auf das bedingungslose Bereitstellen bezahlbarer Wohnungen beschränken, sondern darüber hinaus als strategisches städtebauliches Steuerungsinstrument zur Förderung einer durchmischten, lebendigen Stadt eingesetzt werden.

Markus Schaefer — Die Frage ist: Kann man dieser Diskussion jetzt genug Spielraum einräumen? Will die Politik diese Diskussion? Sind wir jetzt, bei diesem Bevölkerungsdruck und diesem Wirtschaftswachstum, in einer Zeit billigen Geldes und billiger Energie fähig, die Sache so einzugleisen, dass wir tatsächlich in eine resiliente, intelligente Stadt investieren? Sind wir so schlau, oder sind wir dumm genug diese Chance zu vergeben?  



«Glatt! Manifest für eine Stadt im Werden», Architektengruppe Krokodil, herausgegeben von Sascha Roesler, Verlag Park Books 2012

«Landesverteidigung», Benedikt Loderer, Verlag Hochparterre

Daniel Binswanger ist Redaktor des Magazins.
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Finn Canonica ist Chefredaktor des Magazins.
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