aus DiePressse.com, 11.10.2014 | 18:13 |
Punkt, Punkt, Strich, Strich
Wir
suchen Gesichter, wir lesen aus ihnen, wir merken sie uns -
hoffentlich. Über die individuellste Region des menschlichen Körpers.
Gesichtsverlust ist ein starkes Bild für Scham und Erniedrigung: Wer sein Gesicht verliert, es nicht wahren konnte, der verliert ein wichtiges Stück Individualität, wie einer, der in der „gesichtslosen Masse“ verschwindet. Das Unbehagen, das Burka und Niqab provozieren, hat auch damit zu tun, dass Frauen, die solche Verhüllungen tragen, gesichtslos werden. Wir suchen Gesichter, wir lesen aus Gesichtern, und wir merken uns Gesichter, hoffentlich.
„I Can't See Your Face In My Mind“, heißt eines der traurigsten Lieder der Doors. Die Unfähigkeit, sich Gesichter zu merken, die Prosopagnosie, ist ein peinliches Leiden; die Hirnforschung kann es ganz gut lokalisieren: hinter den Ohren, im Gyrus fusiformis. Dort ist das Facebook des Hirns: Nervenzellen, die auf das Erkennen von Gesichtern spezialisiert sind.
Die US-Schauspielerin Jennifer Aniston, in den Nullerjahren mehrmals von der Zeitschrift „People“ in die Liste der „50 schönsten Menschen der Welt“ gewählt, fand Eingang in die Neurologie, als Forscher 2005 eine Nervenzelle fanden, die immer dann aktiv war, wenn der Testperson ein Bild von Aniston gezeigt wurde. An solche eindeutigen Jennifer-Aniston-Zellen – oder, auch die fand man, Halle-Berry-Zellen – glaubt man heute nicht mehr. Sehr wohl an die Bedeutung der Einzigartigkeit von Gesichtern. Die typisch menschlich ist. Wir unterscheiden uns in unseren Gesichtern stärker voneinander als Tiere anderer Arten. (Obwohl: Wespen erkennen einander erstaunlich gut an den Gesichtern.)
Das ist kein Zufall und kein Nebenprodukt der Evolution, das ist wichtig für uns, diese Eigenschaft wurde durch Selektion begünstigt, das heißt: Sie brachte ihren Trägern solche Vorteile – und damit mehr Nachkommen –, dass die Gene, die sie bewirken, in der Population häufiger wurden. „Es ist für mich von Vorteil, andere zu erkennen, und es ist auch von Vorteil für mich, dass ich erkennbar bin“, sagt Michael J.Sheenan, Biologe an der University in California: „Sonst würden wir einander viel ähnlicher sein.“ Seine in Nature Communications (17.9.) publizierte Analyse von Körpervermessungen, die die US-Army an Rekruten vorgenommen hat, ergab: Die Messgrößen, die das Gesicht beschreiben, sind erstens viel variabler als andere Messgrößen, etwa die Länge der Hände. Zweitens sind sie unabhängig voneinander, im Gegensatz zu Messgrößen, die andere Körperteile beschreiben. Ein simples Beispiel: Menschen mit längeren Armen haben tendenziell auch längere Beine; aber Menschen mit mehr Abstand zwischen den Augen haben nicht tendenziell längere Nasen.
Mehr Variation. Dazu passt die Auswertung von Daten aus dem „1000 Genome Project“: Gene, von denen man weiß, dass sie die Gesichtszüge beeinflussen, zeigen stärkere Variation als andere Gene, etwa solche, die die Körpergröße beeinflussen. Auch das spricht dafür, dass in der Evolution zum Menschen die Gesichter individueller wurden. Und zwar schon früh, bevor sich der Neandertaler vom Mainstream des Homo sapiens abspaltete: Auch in seinem Genom scheinen Gene, die das Gesicht prägen, stärker variabel als andere.
Warum war es für unsere Vorfahren so vorteilhaft, Gesichter ihrer Mitmenschen zu erkennen? Wäre es nicht genauso gut, sich deren Gang oder Größe zu merken? Gesichter haben etwas Besonderes, nicht zuletzt, weil die Organe unseres wichtigsten Sinns, die Augen, in ihnen sitzen. Gesichter werden von Gefühlen – auch dauerhaft – verändert, Gesichter drücken Gefühle aus. Wir lesen aus ihnen das Innenleben unserer Mitmenschen. Es kann ziemlich nachteilig sein, wenn man nicht aus der Miene eines Gegenübers lesen kann, dass dieses ernsthaft aggressiv ist.
Oder wenn man Aggression sieht, wo keine ist. Das passiert reaktiv-impulsiven Gewalttätern, wie sie der Hirnforscher Gerhard Roth nennt. Sie lesen ein ängstliches Gesicht fälschlicherweise als aggressiv, erklären dann dem Richter: „Er hat mich so feindselig angestarrt, da musste ich mich wehren!“ Ganz anders geht es Psychopathen: Sie erkennen Gefühle in Gesichtern, auch Angst, sie reagieren aber weniger darauf. Das sieht man an der Aktivität in dem Hirnzentrum, das auf Angst spezialisiert ist, der Amygdala: Psychopathen zeigen dort weniger Aktivität als andere Menschen, wenn man ihnen ängstliche Gesichter zeigt.
Wie universal der Gefühlsausdruck von Gesichtern ist, zeigen die Emoticons: Wir schreiben :-), :-( oder auch ;-), und (fast) jeder weiß, was gemeint ist. Wir freuen uns, wenn Kinder „Punkti, Punkti, Strichi, Strichi“ zeichnen und damit ein „Mondgesichti“ meinen. Das liegt auch daran, dass wir nach Gesichtern suchen, sie sogar dort erkennen, wo keine sind: auf dem Mars etwa oder im dunklen Wald. Oder an der Vorderseite von Autos. Anthropologen der Uni Wien fanden heraus, dass 80 Prozent ihrer Testpersonen in mindestens der Hälfte der ihnen gezeigten Autos ein Gesicht sahen. Und nicht einmal ein geschlechtsloses: Autos mit schmalen, voneinander entfernten Scheinwerfern und einem großen Kühlergrill (der der Nase entspricht) werden z.B. als „männlich“ wahrgenommen – und sind bei Frauen und Männern beliebter, weil offenbar Männer eher sich selbst mit dem Auto identifizieren und Frauen eher einen möglichen Partner darin erblicken.
Auch aus wirklichen Menschengesichtern lesen wir u.a., wie männlich respektive wie weiblich ein Gegenüber ist. Die Breite des Kiefers hängt von männlichen Sexualhormonen ab, und Männer mit breiterem Kinn werden von Frauen tendenziell als attraktiver empfunden. Umgekehrt schätzen Männer bei Frauen meist hohe Backenknochen und volle Lippen, auch sie spiegeln den Hormonstatus wider.
Warum werden dann die Lippen nicht (auch ohne kosmetische Eingriffe) immer voller? Weil es eine gegenläufige Tendenz gibt: einen Trend zum Durchschnittlichen. Frauengesichter, die durch Morphing – also Vermischung verschiedener Gesichter – am Computer erzeugt wurden, wirken auf Männer erstaunlich attraktiv. Das liegt zu einem Teil wohl daran, dass durch das Morphing Hautunreinheiten verwischt werden. Aber auch daran, dass dadurch die Gesichter symmetrischer werden – und Asymmetrie wird unwillkürlich als unattraktiv empfunden, weil sie auf Entwicklungsstörungen hinweisen kann, sagen die Biologen. Manche von ihnen glauben überhaupt, dass primär nicht Schönheit, sondern Hässlichkeit wahrgenommen wird – im Ekelzentrum des Gehirns, der Insula.
Also ist ein schönes Gesicht durchschnittlich? Ist das nicht fad? Bei einem Philosophicum Lech über Schönheit fand der Wiener Anthropologe Karl Grammer einen geschickten Kompromiss: „Das ideal schöne Gesicht ist ein Gesicht, das dem Durchschnitt entspricht“, sagte er, „aber es soll in dem einen oder anderen Merkmal vom Durchschnitt abweichen – dadurch kann man es sich merken.“
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