Augusto Giacometti in Bern
Der revolutionäre Farbspezialist
von Simon Baur
Augusto Giacometti ist das am wenigsten bekannte Mitglied der Bergeller Künstler-Dynastie. Seine selbst entwickelte Farbtheorie wirkt auch heute noch avantgardistisch. Die Berner Ausstellung schafft es, ihn aus der Versenkung zu holen, hat aber konzeptionelle Fehler.
Vor dem Hintergrund des abstrakten Expressionismus der 1950er Jahre wurde Augusto Giacometti postum als Pionier der abstrakten Malerei reklamiert. Nur knapp hat er es damals verpasst, international bekannt zu werden, und bis heute hat sich daran nichts verändert. Seine drei Verwandten Giovanni, Alberto und Diego Giacometti sind nach wie vor bekannter, dabei hat Augusto Giacomettis Malerei durchaus avantgardistisches Potenzial. Zu Lebzeiten stiess sein Hang zur Farbe auf Unverständnis, im Volksmund war gar vom «Konfitüren-Giacometti» die Rede. Für Augusto Giacometti war die Beschäftigung mit Farbe existenziell, ohne sie konnte er nicht sein.
Selbstbildnis, 1922
Im wiederentdeckten Manuskript seines Radiovortrags «Die Farbe und ich» steht denn auch: «Immer war es mir, also ob es ein Leben der Farbe an sich geben müsse, losgelöst von jedem Gegenstand. Aber wie mit dem Studium über die Farbe an sich beginnen? Über die Flügel der Schmetterlinge, die ich damals im Jardin des Plantes malte, zog ich ein Netz aus ganz kleinen Quadraten. Hier waren die Quadrate sehr klein. Auf diese Weise konnte ich ablesen, wie viele Quadrate Schwarz, wie viele Quadrate Dunkelgrün und wie viele Quadrate Rot der Schmetterlingsflügel enthielt. Diese Quadrate zeichnete ich dann grösser, füllte sie mit der betreffenden Farbe aus und liess den Umriss des Schmetterlingsflügels weg; so hatte ich tatsächlich eine farbige Abstraktion ohne Gegenstand.»
Konzepte mit Gefühl
Er versucht aus dem Mikrokosmos den Makrokosmos zu verstehen. Doch so wichtig das Experiment mit dem Schmetterlingsflügel auch war, es befriedigte ihn nicht restlos. Die Zahl der Quadrate war zu gross, er reduzierte sie auf neun, denn er war der Überzeugung, dass man mit «neun Quadraten auch die reichste und vollste Farbenharmonie einfangen» könne. Diese Struktur hielt er für Jahrzehnte bei, und er erwähnt in seinem Vortrag «Die Farbe und ich», seine neusten Farbabstraktionen seien 1933 auf einer Reise nach Torcello entstanden, als er versucht habe, «etwas vom Klang der alten Mosaike mit nach Hause zu nehmen». Diese Aussage ist für seine Theorie zentral, es sind Klänge und Stimmungen, die er strukturell festhielt. Dies erklärt auch die Unmöglichkeit, die Harmonien vor den Originalen zu verifizieren. Nicht das Festhalten einer Abbildung war seine Absicht, er wollte ein Gefühl, eine Stimmung wiedergeben.
Titel?
Augusto Giacometti hat an keiner Kunstakademie studiert, an der er mit Kollegen über seine Farbstudien hätte philosophieren können, seine praktische Ausbildung erlangte er autodidaktisch und an der Zürcher Gewerbeschule. Seine Farbtheorie, die auf dem unmittelbaren Erleben und auch persönlichen Empfindungen beruht, weist denn auch keine Ähnlichkeit mit den Ideen von Goethe, Runge und Johannes Itten oder Josef Albers auf. Doch ist sie die Grundlage seines gesamten Schaffens. Ob die Fenster-Malereien für diverse Kirchen in Zürich, die Wandmalereien in der Eingangshalle der Regionalwache City der Stadtpolizei Zürich oder bekannte Bilder wie «Fantasie über eine Kartoffelblüte», sie basieren alle auf seiner Farbtheorie, die konzeptionell Ähnlichkeiten mit Paul Cézannes Malerei aufweist.
Gestaltung I, 1918, Pastell
International ein Unbekannter
Die Farbstudien bilden die Klammer zur Berner Ausstellung, die mit zahlreichen unbekannten Werken brilliert und Augusto Giacometti als Avantgardisten der Abstraktion inszeniert. Das ist berechtigt, denn er ist im Ausland ein Unbekannter, hat aber das Potenzial von Kandinsky und Mondrian. Dass Bern diesen Effort unternimmt, ist lobenswert. Das Kunsthaus Zürich hat dies unverständlicherweise verpasst, zahlreiche biografische Bezüge Giacomettis gehen nach Zürich, in naher Umgebung des Kunsthauses finden sich auch die Wandmalereien und Glasscheiben, die er für die Polizeiwache und die diversen Kirchen geschaffen hat.
Anbetender Engel, Fraumünster, Zürich
Die Visualisierung der Glasscheiben mittels eines Livestream ist denn auch der schwächste Teil der Berner Ausstellung, die Präsentationsform ist gut gemeint, überzeugt aber überhaupt nicht. Auch der Versuch der Kuratoren, Augusto Giacometti durch Vergleichsbeispiele anderer Künstler in den internationalen Malereidiskurs einzubinden, überzeugt nicht. Die Werke von Adolf Hölzel, Josef Albers, Ernst Wilhelm Nay, Johannes Itten, Jerry Zeniuk und Raimer Jochims lassen bestimmte Farbgesetzmässigkeiten erahnen, basieren aber auf anderen Ideen als Augusto Giacomettis Farbstudien. Wenn der Raum mit diesen unterschiedlichen Positionen zu etwas taugt, dann zur Aussage, wie sehr viel interessanter Giacometti als die Vorgenannten ist und wie variabler er seine künstlerischen Mittel einzusetzen verstand.
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