Freitag, 7. November 2014

Veristische Bildhauerei.

Römisch, noch nicht hyperrealistisch – der Kopf eines jungen Afrikaners in schwarzem Marmor aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert.
aus nzz.ch, 7.11.2014, 05:30 Uhr               Kopf eines jungen Afrikaners in schwarzem Marmor aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert

«Die grosse Illusion – Veristische Skulpturen und ihre Techniken» im Liebighaus Frankfurt


Mit Haut und Haaren



Unter dem Titel «Die grosse Illusion» zeigt das Frankfurter Museum Liebieghaus veristische – «lebensechte» – Skulpturen und ihre Techniken. Es schöpft dabei auch aus seinem reichen Fundus.

Die Abbildung der Realität ist über die Jahrtausende hinweg das grosse Thema der Kunst. Wobei die Vorstellung von dem, was Wirklichkeit ist und was ihre Steigerungsform der Illusion, deren Kehrseite dann auch zur Denunziation werden kann, nicht nur von der Zeit geprägt ist, sondern auch abhängig vom Zeitgeist.
John de Andrea  Ariel II, Denver, 2011,

Die Bewunderung der Kunst fing an mit der Verwunderung über die Nähe zur Realität. Der Maler Zeuxis, der im 5. Jahrhundert vor Christus die griechischen Zeitgenossen mit seinen die Grenze zwischen Realität und Abbild verwischenden Bildern zum Staunen brachte, soll zum Beispiel ein Trauben-Bild gemalt haben, das die Vögel erwartungsvoll anpickten. Da ist es dann nicht mehr weit zu der liebevollen Legende, nach der Pygmalion, ein von der Schnödigkeit der Frauen enttäuschter Künstler, eine Elfenbeinstatue schuf, die so lebendig aussah, dass er sich in sie verliebte und schliesslich Venus anflehte, ihr Leben einzuhauchen. Offensichtlich erfolgreich. Denn Galatea, so der Name der Geliebten, brachte ein Kind zur Welt.

Jesuskind aus dem Ursulinenkloster St. Joseph in Landshut, Süddeutschland, 16.-18. Jh., Gliederfigur aus Holz, originale Fassung, Glasaugen, Wollhaar, Textilien u.a,

Vorsätzliche Täuschung


Der Realismus, dessen exaltierteste Blüte der Verismus ist, die vorsätzlich augentäuschende Nachbildung der Realität, ist der Kunst über die Jahrtausende hinweg zwar nie ganz abhandengekommen. Er wurde aber, vom kritischen Verismus der «Neuen Sachlichkeit» einmal abgesehen, mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, mit neuen Ausdrucksformen einer veränderten Gesellschaft und schliesslich der Abstraktion in den Archiven der Kunstgeschichte zwischengelagert. Und hat durch die zwangsverordnete Praktizierung zum Ruhm autoritärer Regime schliesslich einen schlechten Ruf bekommen.

Es war dann die von den Ideologien noch nicht in die Haft genommene amerikanische Kunst der Nachkriegszeit, in der die Banalität des Alltags in sämtlichen Erscheinungsformen von Campbells Suppendosen auf der Leinwand und der dicken Frau mit den Lockenwicklern und dem überquellenden Einkaufswagen als hautnahe Skulptur zum Thema der Kunst wurde. Dabei feierte der Realismus vor allem in der Darstellung des Banalen, Kuriosen und auch Provokanten seine Wiederauferstehung. Und hielt in dieser Selbstverständlichkeit Einzug in die grossen Ausstellungen wie die Kasseler «documenta», dann auch in das Museum.

Meister IPS, Alpengebiet, Christus an der Geißelsäule (Detail), Linde, Fassung 18. Jh., Glasaugen;

Der neue Realismus ist nicht identisch mit dem sehr viel umfassenderen Begriff der Pop-Art, basiert aber auf der gleichen Mentalität, die kein Thema und keinen Gegenstand aus der Kunst ausschliesst und für die jede Art der Darstellung möglich ist. Eine schmuddelige Bettdecke auf einem Collage-Bild von Robert Rauschenberg und die täuschend ähnlich nach dem lebenden Vorbild geschaffene Frau mit Einkaufswagen von Duane Hanson sind ebenso im erweiterten Kunst-Angebot wie die ultimative Möglichkeit der Identität von Realität und Kunst, die Brillo-Waschpulver-Kartons von Andy Warhol.

Supermarket Shopper von Duane Hanson (nicht in der Ausstellung)

Die Debatten um die Brillo-Box sind lange vorbei, die Kontroverse, inzwischen ein Stück Kunstgeschichte, ist zu ihren Gunsten und zum Vorteil von Warhol, seinem Ruhm und seinem Kontostand ausgegangen. Umso erstaunlicher ist es, dass dieses Sujet zwar mit dem Schwerpunkt Malerei zum Ausstellungsthema wurde (zum Beispiel 2010 im Hamburger Bucerius-Kunstforum mit «Täuschend ähnlich. Illusion und Wirklichkeit in der Kunst»), aber nicht im Zusammenhang der Skulptur, deren weitverzweigtes, dreidimensionales Wurzelwerk bis in die ägyptische und antike Kunst zurückgeht. Das Frankfurter Liebieghaus, das zu dem Thema «Realität und Projektion» schon im Jahr 2002 ein Kolloquium veranstaltet hatte, hat es jetzt mit der Ausstellung «Die grosse Illusion» ins museale Rampenlicht gerückt.
Filippo Scandellari, Büste der Anna Maria Calegari Zucchini, Bologna 1742; Wachs, gegossen und bossiert, gefärbt und bemalt, Echthaar, Glasaugen, Leinen, Seide, Kette:  Schnur, Draht, geschliffene Steine,

Die Ausstellung, eine Inszenierung, die sich auf kammermusikalische Weise in den einstmals privaten Räumen des Barons von Liebieg verzweigt, beginnt mit einer «Thronenden Madonna», wobei das Adverb thronend eine rundum realistische Beschreibung ist. Denn diese Gottesmutter ist vor allem eine Himmelskönigin nach barock irdischem Vorbild. Also mit Zepter, Krone und gekleidet in ein Brokatgewand, das am Hals abgeschlossen ist mit einem Band, auf dem Perlen und Buntglassteine appliziert sind. Echte Haare, ein sorgfältiges Make-up und Glasaugen sorgen für himmlische Perfektion. Diese Madonna und ihr Kronprinzen-Sohn sind so real wie imaginär. Und haben wohl gerade in dieser Mischung jene Magie ausgestrahlt, die aus den Worten der Heilsgeschichte allein nicht kommen konnte.

süddeutsch, Ende 17. Jh.; Holz, originale, partiell überarbeitete Teilfassung; Glasaugen, Echthaar, Textil, Papier, Glassteine, Perlen, Bouillondraht, Glaskugeln, Silber, Kupfer feuerergoldet, Messing versilbert;

Eine ähnliche Wirkung, jetzt aber der emotionalen Betroffenheit, ging wohl aus von der Skulptur «Christus an der Geisselsäule» [s. weiter oben], die Wunden sind hier kunstvoll in die Haut geschnitzt, darunter ist das rote Blut zu erkennen. Überhaupt wurde an Blut nicht gespart, ebenso wenig wie an tropfenden Tränen. Wie gross hier der Unterschied der Kulturen und der Geschichte ist, lässt sich in dieser Ausstellung sehen, die auch die Konfrontation der Ideologien und Jahrhunderte in beiläufiger Konsequenz inszeniert.

Krieger A aus Riace, Griechisch, um 450 v. Chr., Bronze, Silber, Kupfer, Schwefel; Rekonstruktion nach dem Original

Die ägyptischen Sarkophage, die ein Abbild des Toten geben sollten, und die im direkten Zusammenhang von Gebet oder Prozession eingesetzten Madonnen und Christusfiguren hatten eine andere Funktion als die marmornen Götter und Helden der Antike, die bis ins 19. Jahrhundert das Vorbild für die Büsten von Potentaten, Dichtern und Gelehrten waren. Und eine Geschichte der Rolle der Geschlechter läuft ab, wenn man vor dem baumlangen Krieger aus Riace steht. Der Fund von zwei solchen etwa um 450 v. Chr. entstandenen Bronzen im Ionischen Meer erregte 1972 grosse Aufmerksamkeit. Im Hintergrund zu dem mit Bartlocken, Muskeln, Penis und anderen Insignien maskuliner Herrlichkeit ausgestatteten, schwarz-goldenen Superman ruht Danneckers marmorne, klassizistisch gelassene «Ariadne auf dem Panther». Und wenn man neben dem posierenden Krieger steht, fällt der Blick in einen Seitenraum, auf «Ariel II», die jünglingshaft schöne Tochter von John de Andrea, ein Akt, Jahrgang 2011, das von den erhobenen Armen gerahmte Gesicht ist das Titelbild der Ausstellung.

Heinrich Dannecker, Ariadne auf dem Panther


Vom Rande der Gesellschaft

Womit man bei einer Schwäche der Ausstellung angekommen ist. Die zeitgenössische veristische Skulptur ist von Duane Hanson über die Brüder Chapman bis hin zu Ron Mueck ein Auftritt der Menschen vom Rande der Gesellschaft, oft auch in grotesk verschobenen Proportionen. Man muss von Duane Hanson, dem Klassiker dieser Kategorie, vielleicht nicht die «Bowery Derelicts» zeigen, die inmitten des Abfalls als menschlicher Müll in einer Ecke liegen. Aber man hätte die Frau mit dem Supermarkt-Wagen oder, das wäre ein in mehrfacher Hinsicht interessanter Gast gewesen, den «Artist Seated», die Selbstdarstellung des Künstlers, zeigen können. Stattdessen sitzt ein netter kleiner Hanson-Knabe am Rande eines Podests zu Füssen der Büste eines feinen Herrn, Florenz um 1500. Der diesen Enkel gewiss gern in die Arme genommen hätte. Dass die veristische Skulptur von der Ekstase inzwischen bei der Ausnüchterung, von der Repräsentation bei der banalsten Realität angekommen ist, das wird in dieser Ausstellung stilistisch angedeutet, aber in seiner Drastik nicht gezeigt.


Duane Hanson  Seated Child, 1974

Der Katalog ist ein Band mit prachtvollen Aufnahmen und kenntnisreichen Aufsätzen, besonders zur Materialität und detaillierten Restaurierung der Skulpturen. Da in die Ausstellung aber auch Kunstwerke aus der ständigen Sammlung integriert sind, die hier nicht verzeichnet und abgebildet sind, und der Katalog der ausgestellten Werke nicht dem Ablauf der Ausstellung folgt, sondern sortiert ist nach Kategorien wie «Polychromie», «Eingesetzte Augen» oder «Echte Haare», beschert er dem Besucher der grossen Illusion auch eine ebensolche Irritation. So sehr die singuläre Forschungsarbeit des Liebieghauses auf dem Gebiet der Skulptur zu bewundern ist, so sollte ein Katalog vielleicht nicht nur für die veristischen Kollegen, sondern auch für den veritablen Ausstellungsbesucher von Nutzen sein.

Die grosse Illusion – Veristische Skulpturen und ihre Techniken. Liebieghaus Frankfurt am Main. Bis 1. März 2015. Katalog € 44.90.
John de Andrea Ariel II, Denver, 2011,

Nota. - "Ein epochenübergreifendes Phänomen", heißt die Ausstellung im Untertitel. So ist es: Wenn man sich die Epochen nacheinander anschaut, wird einem auffallen, dass sich gewisse Merkmale - Eigenschaften, Züge, Charakteristik - in der einen und auch in den andern finden. Man wird die Phänomene herauspicken, neben einander halten und vergleichen. Und wenn man das gewohnheits- oder gar erwerbsmäßig tut, wird man gar meinen, ohne es recht zu bemerken, es gäbe im Hintergrund oder im Untergrund oder latent und stets auf dem Sprunge "die veristische Skulptur", die sich zu allen Zeiten immer wieder mal in die Erscheinung gedrängelt hat. Dann macht man sie zum sujet - engl. subject - einer Ausstellung, und schon hat sie eigene Wirklichkeit.

spätgotisch, denke ich, aber ich konnte nichts herausfinden

Eins haben die gezeigten Bilder auf jeden Fall gemeinsam - eine Absicht der genauen Wiedergabe. Doch was meinte ein Künstler des 18. Jahrhunderts, wenn er uns die Wunden Jesu so echt "wie im wirklichen Leben" zeigen musste - war es dasselbe, was ein Künstler Mitte des 20. Jahrhunderts meinte, als er eine nackte Frau so detailgenau wie möglich in Bronze goß und mit Farbe bemalte wie die alten Griechen? Das ist kaum anzunehmen, die Jesusfigur war Gegenstand eines ritualisierten öffentlichen Kults, die pseudoantike Venus ist offenbar nicht so ("nicht ganz so") gemeint, wie sie aussieht, sondern 'will auf etwas verweisen', aber auf was?

Das ist nicht dieselbe Frage wie etwa die, inwiefern sich Realismus, Verismus, Hyperrealismus, PopArt und was weiß ich noch unterscheiden oder womöglich auch nicht. Denn das sind Kategorien für den Kunsthistoriker und mehr noch für den Sammler, aber sie helfen nicht, 'den Blick zu weiten', sondern verführen im Gegenteil zum Klassifizieren.

Aber davon mal abgesehen sind die gezeigten Stücke ganz außerordentlich.
JE 

Michel Erhart (um 1440-45–nach 1522), Apostelbüsten, linke Predellengruppe des Hochaltars in Blaubeuren, ehemalige Benediktinerklosterkirche, 1493-1494

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