Samstag, 8. November 2014

Berlins Stadtbild ein Vierteljahrhundert danach.

Im Klang der Grossstadt – der neue Potsdamer Platz in Berlin steht für den Wandel von der Mauerbrache zum beliebten Touristenmagneten.
aus nzz.ch, 8.11.2014, 05:30 Uhr                           

25 Jahre Hauptstadtarchitektur
Berlins baukünstlerische Bilanz



Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 startete ein einzigartiges städtebauliches Abenteuer: Die beiden Stadthälften konnten nach 28 Jahren der Trennung wieder zusammenwachsen. Bis heute drehen sich die Baukräne, doch nur wenige Neubauten aus der Nachwendezeit haben auch eine überregionale Bedeutung entfaltet.

Was war das für eine Zeit 1989 in Berlin! Chaotisch und völlig überraschend, ein bisschen unsicher, aber trunken vor Euphorie und endlich, endlich grenzenlos frei. Als am 9. November 1989 die Berliner Mauer fiel, strömten an den folgenden Tagen die Besuchermassen aus dem Ostteil der Stadt über den Kurfürstendamm, mit Tränen in den Augen und westlichem Begrüssungsgeld im Portemonnaie. Bis sich die weiten, einst von der Mauer dominierten Brachen zwischen den Berliner Stadthälften füllten, dauerte es freilich etwas länger. Doch wer sich heute auf die Suche nach den letzten Überresten der Teilung macht, der findet nur noch wenige Mauerfragmente. Für die Nachgeborenen ist es daher schwierig, noch einen Eindruck davon zu gewinnen, was die Mauer für die geteilte Stadt wirklich war. An der


Mauergedenkstätte in der Bernauer Strasse erhalten sie  zumindest eine Idee davon, wie die Mauer «funktionierte», die nicht nur die Stadthälften trennte, sondern auch die Machtblöcke. Dort ist ein kleines Stück von jenem angeblichen «antifaschistischen Schutzwall» stehengeblieben, den die «Mauerspechte» 1990 so schnell wie möglich weggepixelt haben. Entlang der ehemaligen Grenzbefestigung an der Bernauer Strasse haben die Berliner Landschaftsarchitekten Sinai einen bemerkenswerten Erinnerungsort geschaffen. Bei allem gestalterischen Reiz lässt er für die Besucher aus aller Welt anschaulich werden, was die Mauer bedeutete: ein perfides Sicherheitssystem, das sich nach dem 13. August 1961 immer raumgreifender, immer mörderischer in den Grundriss und die Seele Berlins frass.


Ewige Baustelle

Was wurde um dieses «Gedächtnis» der Stadt in den Jahren nach 1990 in Berlin gerungen und gefeilscht. Es war die Blütezeit der Postmoderne in Deutschland. Die Internationale Bauausstellung (IBA) der achtziger Jahre hatte im Westteil Berlins den Weg für eine «kritische Rekonstruktion» geebnet. Mit ihr drückte der aus dem malerischen kleinen Lübeck stammende Senatsbaudirektor Hans Stimmann dem grossen Berlin in den neunziger Jahren seinen städtebaulichen Stempel auf. Er leitete den baulichen Prozess des Zusammenwachsens der Stadthälften und schuf zugleich ein Korsett, das die Stadt in ihren Formen hielt. Doch für Neues oder gar für Experimente bot es keinen Raum. Stattdessen gab es klare architektonische Vorgaben wie die steinerne Fassadenverkleidung, die Höhenbegrenzung entlang der überlieferten Berliner Traufhöhe und einen Wohnanteil von mindestens zwanzig Prozent. Über allem aber schwebte das Dogma des historischen Stadtgrundrisses, selbst dort, wo er sich längst in Brachen und Neubauquartieren aufgelöst hatte. So erwuchs das Bild einer Stadt, das Rem Koolhaas bereits 1991 als dilettantisch geisselte und aufgrund dessen er seine Tätigkeit als Juror beim internationalen Wettbewerb um die Bebauung des Potsdamer Platzes aufgab.

'Kritische Rekonstruktion' am Pariser Platz

Auch 25 Jahre nach dem Mauerfall ist Berlin baulich noch nicht zur Ruhe gekommen. Entlang der Strasse Unter den Linden in Berlins Mitte reihen sich die Grossbaustellen aneinander. Zwischen Pergamon-Museum, Staatsoper und Humboldt-Forum, das derzeit im rekonstruierten Stadtschloss entsteht, wird wie wild verdichtet, saniert und rekonstruiert. Immerhin: Die frühen architektonischen Aufgeregtheiten der jungen Berliner Republik haben sich verflüchtigt. Aber mit ihnen ist auch die Euphorie der Wiedervereinigung verflogen. Stattdessen wird über das Thema des bezahlbaren Wohnungsbaus diskutiert, das von der Berliner Politik lange vernachlässigt wurde.

Bet- und Lehrhaus am Petri-Platz, Mitte; Entwurf

Derweil sind die allermeisten städtebaulichen Grundsatzentscheidungen längst in Beton gegossen und setzen erste Patina an. So ist das Glasdach von Meinhard von Gerkans gewaltigem Hauptbahnhof trotz allen Bemühungen des Architekten leider immer noch zu kurz, während die Brachen davor und dahinter langsam eine bauliche Form annehmen und gleich gegenüber die Seitenfassaden des Kanzleramtes von Axel Schultes unschöne Alterungsspuren zeigen. Die langen Schatten des 11. Septembers sorgen für ausgiebige Sicherheitskontrollen beim Besuch von Norman Fosters Kuppel über dem Reichstag. Immerhin – welches andere Parlament der Welt lässt sich sonst bei laufendem Politbetrieb schon aufs Dach steigen?

, fotocommunity

Der Berliner Reichstag steht beispielhaft für den selektiven Geschichtsblick der Berliner Nachwendejahre: Kaum hatten Christo und Jeanne Claude den Reichstag 1995 ebenso fotogen wie faszinierend zu einem wunderbaren Event verpackt, da durfte der Brite Foster die Nachkriegsgeschichte des Gebäudes mit Paul Baumgartens zurückhaltend modernem Wiederaufbau aus den 1960er Jahren vollständig abräumen. Was blieb, ist die steinerne Geschichtshülle des Reichstags, die die meisten Betrachter heute für die ganze Wahrheit nehmen.

Christo im Wrapped Reichstag

So wie Foster durften nach der Wiedervereinigung von 1990 etliche internationale Stararchitekten in Berlin bauen. Doch das trug nicht dazu bei, dass – anders als bei der IBA — ein neuer architektonischer Impuls von der Stadt ausging, der über sie hinauswies. Wer heute über den touristengesättigten Potsdamer Platz schlendert, der fragt sich, wieso die hübsche Hochhaustrias aus der Hand der Architekten Hans Kollhoff, Helmut Jahn und Renzo Piano eigentlich so seltsam mutlos kurz geraten ist. Hatte Rem Koolhaas am Ende doch recht? Waren die Bandagen des historischen Stadtgrundrisses zu beengend für einen wirklichen architektonischen Aufbruch? Dort, wo gleich nebenan der grossartige Erich Mendelsohn Ende der 1920er Jahre mit dem Columbus-Haus Architekturgeschichte geschrieben hatte, erstreckt sich heute eine Bebauung von schockierender steinerner Behäbigkeit. Übertroffen wird die gebaute Mutlosigkeit am Potsdamer Platz noch vom angrenzenden Leipziger Platz, dessen «kritische Rekonstruktion» auch nach einem Vierteljahrhundert noch immer nicht abgeschlossen ist. Gerade erst hat dort anstelle von Alfred Messels kriegszerstörtem Wertheim-Warenhaus eine neue Shopping-Mall eröffnet. Doch deren belangloser Fassadenmix erweist sich geradezu als Beleidigung für den wegweisenden Vorgängerbau Messels. Langeweile beherrscht aber auch den anschliessenden, von der Leipziger Strasse durchschnittenen Stadtraum.

Potsdamer Platz links, Leipziger Platz rechts

Zukunftsphantasien

Nur kurz ist der Weg hinüber zum Pariser Platz, um dessen Gestalt mit Enthusiasmus gerungen wurde. Nach 1961 bildete er eine Grenzbrache im Schatten des Brandenburger Tores, das sich mit dem Fall der Mauer vom Symbol der Teilung zum Wahrzeichen der Wiedervereinigung wandelte. Ein bisschen Frank O. Gehry bei einem Bankgebäude, ein bisschen Christian de Portzamparc bei der französischen Botschaft, ein bisschen Rekonstruktionsseligkeit beim «Adlon», und fertig ist die Berliner Mischung der neunziger Jahre. Ausgerechnet die Akademie der Künste, ein Spätwerk von Günther Behnisch, die mit ihrer gläsernen Fassade dem steinernen Stimmann die Stirn bieten wollte, erwies sich in der Ausführung als wenig gelungen – und wird nun bereits saniert.

Adlon

Dabei schien 1990 doch so viel möglich in der Stadt. Es waren wilde Visionen, mit denen sich das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt unmittelbar nach der Wende unter seinem damaligen Direktor Vittorio Magnago Lampugnani in einer Ausstellung zu Wort meldete. Unter dem Motto «Ideen für das Herz einer grossen Stadt» warfen Mario Bellini und Giorgio Grassi rationalistische Blöcke in die Stadt. Der Österreicher Wolf Prix von Coop Himmelb(l)au hätte am liebsten eine dekonstruktivistische Skyline in die Stadtmitte implantiert, während Jacques Herzog und Pierre de Meuron den Tiergarten mit Megablöcken einfassen wollten – doch fast alles blieb ohne Chance auf Verwirklichung. Stattdessen ergriff eine selbstgenügsame Architekturhaltung die Stadt. Oft nicht wirklich schlecht, aber auch selten wirklich gut, ging sie mit einigen gravierenden städtebaulichen Fehlentscheidungen einher. Dazu zählt der noch immer unaufhaltsam weiter wuchernde Wust der Ministeriums-Monokultur in der Stadtmitte ebenso wie die Ansiedlung der Hochsicherheits-Megastruktur des Bundesnachrichtendienstes (BND), der nichts in einem Stadtzentrum verloren hat.

BND

Selbst die nach der Wiedervereinigung als Einkaufs-Alternative hochgejubelte Friedrichstrasse vermochte dem Kurfürstendamm, der derzeit eine neue Nobel-Blüte erlebt, nicht den Rang abzulaufen. So sitzt man im Keller von Jean Nouvels gläserner Galerie Lafayette an der Friedrichstrasse, geniesst die frischen französischen Austern und ein paar bunt leuchtende Macarons und fragt sich, wo sich die architektonischen Qualitäten des neuen Berlin verbergen könnten. Wo andere Metropolen der Welt zwischen Dubai und Schanghai, zwischen London und New York mit architektonischen Ikonen um die Gunst der zahlreichen Besucher und Investoren buhlen, da hat Berlin lediglich sein tradiertes Architekturgewand poliert. Doch reicht das als städtebauliche Zukunftsvision wirklich aus? Wer sich unter Freunden und Bekannten umhört, welche wirklich bedeutenden Bauten nach 1989 in Berlin entstanden seien, der erntet zumeist ein ratloses Schweigen.

Galeries Lafayette

Die Blicke hellen sich erst auf, wenn die einstigen Baulücken in der Stadt zur Sprache kommen. Dort sind manche Glanzlichter entstanden, die nicht nur regionale Relevanz besitzen. Es sind ausgerechnet die Baugruppen und kleinen Eigentümergemeinschaften, die auf den schmalen Restgrundstücken für frische Impulse sorgen und interessante Wohnungsgrundrisse zwischen Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain im Gepäck haben. Seit rund einem Jahrzehnt besetzen sie in Form und Material, in Konstruktion und partizipativer Kommunikation jene gedanklichen Fehlstellen, die die Politik in der Stadt nicht auszufüllen vermochte.

Herrje, er meint doch nicht etwas sowas? (Linienstraße, Bundschuh)

Und doch gibt es sie, die architektonischen Meilensteine der Nachwendezeit. Jene ernsthaften Versuche, in Berlin an der Stadt von morgen zu bauen. Fast schon ein Klassiker in Formfindung und ökologischem Anspruch ist dabei das 1999 fertiggestellte GSW-Hochhaus von Matthias Sauerbruch und Louisa Hutton — doch es ist eben nur ein Einzelstück geblieben. Dazu fügen sich die wunderbaren nordischen Botschaften am Rand des Berliner Tiergartens, die aus dem gleichen Jahr stammen und an denen unter anderem Gert Wingårdh aus Schweden, 3XN aus Dänemark und Snøhetta aus Norwegen mitgebaut haben. Hinter ihrem organisch geschwungenen grünen Lamellenzaun senden sie eine fortdauernde baukulturelle Botschaft in die Stadt. Wirklich frecher und frischer wurde die Berliner Architektur erst in der Zeit nach Stimmann. Erst dann öffnete sich Raum für Projekte wie die jüngst fertiggestellte Tour Total von Regine Leibinger und Frank Barkow (NZZ 4. 12. 12), die freilich wie die Hochhäuser am Potsdamer Platz unter dem Ur-Berliner Mangel leidet, dass Hochhäuser hier einfach nicht wirklich hoch sein dürfen.

Ja, das geht, da hat er Recht: GSW-Hochhaus (Sauerbruch)

Andauernde Transformation

Als zukunftsweisend präsentiert sich die Berliner Architektur der Nachwendejahre vor allem da, wo sie nicht mit einer kritischen Rekonstruktion auf alt macht, sondern das Alte ebenso behutsam wie konsequent in die Gegenwart leitet. Das ist David Chipperfield auf unvergleichliche Weise mit dem Neuen Museum auf der Museumsinsel gelungen. Wer redet heute noch von den Widerständen, die er überwinden musste? Das Neue Museum ist internationaler Kult. Und das zu Recht. Wer immer das durch Krieg und Nachkriegszeit geschundene Haus heute betritt, dem geht das Herz auf. Hier bewegen sich nicht nur die Ausstellungsstücke der Staatlichen Museen auf allerhöchstem internationalem Niveau, sondern auch der differenzierte denkmalpflegerische Umgang mit dem Bestand und seine zeitgenössischen Ergänzungen. – Dieser eigenständige künstlerische Anspruch im Umgang mit dem Bestand zeichnet auch Roger Dieners kluge Reparatur des Naturkundemuseums in der Invalidenstrasse aus. Jener Roger Diener, der mit seiner ebenso kraftvollen wie kontrovers diskutierten Erweiterung der Schweizer Botschaft inmitten des Berliner Regierungsviertels bereits Jahre zuvor ein baukulturelles Zeichen gesetzt hatte.

Tour Total, ist auch nicht schlecht; Foto Adenis

Während die meisten Spuren der Teilung längst aus dem Stadtgrundriss verschwunden sind, schwappt bereits die nächste Transformationswelle auf die Stadt zu. Spätestens mit der Fertigstellung des Humboldt-Forums im rekonstruierten Stadtschloss, die für 2019 geplant ist, wird die Diskussion um die Rekonstruktion der untergegangenen Berliner Mitte rund um die Marienkirche erneut losbrechen. Der Blick in andere deutsche Städte wie Frankfurt am Main oder Dresden lehrt, dass sich Berlin wohl der Mischung aus Nutzungsdruck, wirtschaftlichen Interessen und vor allem einer vermeintlichen Sehnsucht nach touristisch bestens vermarktbaren innerstädtischen Traditionsinseln kaum wird entziehen können. Das Innovative und Exzeptionelle wird sich wohl auch künftig in Berlin seine Baulücke suchen müssen.

nicht ohne Chipperfield: Bürohaus

Nota. - Für jemanden, der hier lebt, geht es nicht in erster Linie darum, ob das, was hier gebaut wird, "innovativ und exzeptionell" ist. Das steht für Architekten und Architekturkritiker im Vordergrund, deren Bilanz ist "baukünstlerisch". Aber die Leute, die hier leben und ihren Geschäften nachgehen, kommen viele Gesichtspunkte vorher in Betracht. Und nicht nur die Stadtplanung, sondern die Architektur selbst ist für ihre Bewohner, nicht für die Kritiker, und selb st für die Touristen erst in dritter oder vierter Linie. Mit andern Worten, Highlights, Solitäre und Ikonen sind nur ganz ausnahmsweise das, was einer Stadt bekommt; einer Stadt wie Bilbao zum Beispiel. Fürs Auge hat Berlin ein bisschen was zu bieten, es könnte mehr sein, aber spektakulärer? Das ist nicht nötig, man will ja auch mal seine Ruhe haben.  

Aber mit den beiden Beispielen GSW und Total  lobt er immerhin zwei Gebäude, die ganz ihrem Zweck entsprechen und auch nicht anders aussehen wollen, und trotzdem dazu verleiten, sich nochmal nach ihnen umzudrehen, wenn man es nicht allzu eilig hat. Den Anwohnern wird es nicht lästig, sie jeden Tag zu sehen, und der eine oder andere Tourist zückt nach kurzem Zögern vielleich seinen Fotoapparat.

Wissen Sie, Herr Tietz, hier in Berlin ist letzthin (und schon viel früher) das Maul so furchtbar voll genommen worden, wir sind reif für Lösungen, die etwas bescheidener ausfallen. Originell muss nicht alles sein, geschmackvoll reicht schon aus.
JE

weiß einer, wo das liegt?

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