Eine Ausstellung zur Neuen Sachlichkeit im Münchner Lenbachhaus
Realitätsbezogen und gegenständlich
Das Münchner Lenbachhaus besitzt mit dem 1929 gemalten Bild «Operation» von Christian Schad eine Ikone der Neuen Sachlichkeit. Das nahm das Museum zum Anlass für die spannende Ausstellung «Menschliches, Allzumenschliches», in der auch bisher nie gezeigte Werke dieser Stilepoche zu sehen sind.
Christian Schad, Operation, 1929
Die Neue Sachlichkeit ist einer der vieldeutigsten Stilbegriffe der Kunstgeschichte, weil er die Haltung der Künstler gegenüber der Realität über deren Art zu malen stellt und diese als sachlich, distanziert benennt. Das aber trifft vielleicht noch auf Christian Schad mit seinem Bild «Operation» von 1929 zu, aber keineswegs auf George Grosz, Georg Schrimpf, Otto Dix und Josef Scharl und auch nicht auf die zwei Künstlerinnen der gegenwärtigen Ausstellung im Münchner Lenbachhaus Erna Dinklage und Lotte Laserstein. Vielmehr ist unter dem Dach der Neuen Sachlichkeit alles versammelt, was zwischen den beiden Weltkriegen an realitätsbezogener und gegenständlicher Kunst in Deutschland entstanden ist. Dazu gehört der magische Realismus eines Heinrich Maria Davringhausen ebenso wie die dem Surrealismus zugeneigte Malerei von Franz Radziwill und die herb realistische, auch veristisch genannte Kunst eines Christoph Voll, von dem die Holzfigur «Joseph» von 1923/24 zu sehen ist.
Albert Bloch, Interieur, 1920, Heinrich Maria Davringhausen, "Negermädchen", 1916; Christoph Voll, Joseph, 1923/24; Willi Geiger, Der Korpsstudent, 1927; Georg Schrimpf, Oskar Maria Graf, 1918; oben:Karl Hubbuch, Die Schleckermäuler, um 1926/28; unten:Karl Hubbuch, München, um 1933/35; Herbert Ploberger, Trümmer, 1945/46
Lange kaum wahrgenommen
Die Kunst dieser Zwischenkriegszeit gilt als restaurativ, als hätte der Krieg nicht nur Künstler wie Franz Marc und August Macke getötet und andere wie Ernst Ludwig Kirchner schwer beschädigt, sondern auch allen anderen den Mut zum Experiment und zum Aufbruch in die neue Kunst der Abstraktion genommen. Man denke nur an den Stilwandel eines Erich Heckel oder Karl Schmidt-Rottluff. Und selbst Pablo Picasso ging in Paris den Weg des «retour á l'ordre» mit seinem neuen Klassizismus. In dieser Entwicklung der Kunst glaubt man rückblickend den Wunsch der Menschen nach einer heilen Welt zu erkennen. Denn das alte Europa war durch den Krieg endgültig zerbrochen.
Stalins kritischer Arschkriecher, von Rolf Schlichter, 1926
Die Ausstellung «Menschliches, Allzumenschliches – Die Neue Sachlichkeit im Lenbachhaus» widmet sich einer Kunst, die viele Jahre kaum wahrgenommen wurde. Gegenständliche Kunst wurde nämlich den Hautgout der Staatskunst des Dritten Reichs und anderer Diktaturen nicht los, obwohl viele dieser Künstler im Dritten Reich nicht weniger diffamiert und als entartet eingestuft wurden als ihre ungegenständlich oder expressiv malenden Kollegen. Viele von ihnen gerieten in Vergessenheit und zählen heute deshalb zur «verschollenen Generation». Sie wurden aus der Kunstwelt einfach hinauskatapultiert. Aber heute hat nicht nur die figurative Malerei eines Neo Rauch Hochkonjunktur. Es werden auch die Maler der Neuen Sachlichkeit wiederentdeckt und in Ausstellungen gefeiert. Dem schliesst sich das Lenbachhaus an und zeigt den Teil seiner Sammlung, der immer hinter der wesentlich grösseren und berühmteren des Blauen Reiters steht, als in sich geschlossene kleine Schau, in der auch bisher nie oder nur selten gezeigte Bilder zu sehen sind.
Das verbindende Thema von «Menschliches, Allzumenschliches» ist das menschliche Porträt, an dem sich die stilistische Vielfalt der Neuen Sachlichkeit eindringlich studieren lässt. So wurde der Schriftsteller Oskar Maria Graf, ein bayrisches Urgestein, der selbst im New Yorker Exil mit der Lederhose herumlief, von Georg Schrimpf und Rudolf Schlichter im Abstand von neun Jahren gemalt. Während Schrimpf in diesem Bildnis noch vom Blauen Reiter und dem Expressionismus beeinflusst war und Graf 1918 als eher zierlichen Mann mit zu grossem Hut nachdenklich und verletzlich malt, zeigt ihn Schlichter 1927 in seiner inzwischen erworbenen Massigkeit dumpf, misstrauisch und wahrscheinlich sehr lebensecht.
Georg Schrimpf, Potrait Oscar Maria Graf, 1918
Besser kam bei ihm Bertolt Brecht weg, den er 1926 porträtierte. Auch ihn gibt er nicht in Schriftstellerpose wieder, sondern als technikverliebten modernen Menschen seiner Zeit, dem die dicke Zigarre mundet. Bert Brecht schaut sehr aufgeweckt und selbstbewusst in die Welt. Dieses Bildnis gilt ebenso als Ikone der Malerei der zwanziger Jahre wie die «Operation» von Christian Schad. Dargestellt ist eine Blinddarmoperation, die Ärzte im weissen Kittel, assistiert von Frauen in Nonnentracht, durchführen. Das gesamte Bild ist in mehr oder weniger gebrochenen Weisstönen gemalt und wirkt sehr sachlich. Und doch ist es in seiner Komposition auf den Augenblick der eigentlichen Operation zugespitzt.
Um diese dramatische Inszenierung zu gestalten, griff Christian Schad auf die Darstellung des «Toten Christus» in der Mailänder Pinacoteca di Brera von Andrea Mantegna und damit auf die christliche Ikonografie zurück. Schad knüpft also bewusst an die Tradition der abendländischen Malerei an, sucht sich aber neue Themen, ebenso Herbert Ploberger in seinem pfiffigen «Selbstbildnis mit ophthalmologischen Lehrmodellen» von 1928/30 und Max Radler, der 1930 einen «Radiohörer» malt, oder Wilhelm Heise, der sich 1926 in dem Bild «Verblühender Frühling» selbst als «Radiobastler» darstellt.
Herbert Ploberger Selbstbildnis mit ophthalmologischen Lehrmodellen, um 1928-30,
Melancholische Blicke
Der «Radiobastler» war eine typische Zeiterscheinung der zwanziger Jahre, weil die ersten Radiosendungen schon ab 1924 ausgestrahlt wurden, aber Geräte zum Hören erst ab etwa 1930 im Handel waren. Wer Radio hören wollte, musste sich also selbst ein Radio bauen, und Heise zeigt die Problematik dieses Unterfangens für einen technisch nicht sehr begabten Maler. Mit melancholischem Blick sitzt er inmitten von Blumentöpfen, zwischen denen technisches Gerät herumliegt, der Topf mit den Pinseln ist zur Seite gerückt.
Josef Scharl Gefallener Soldat 1932
Beim «Radiobastler» hat Heise wohl mehr den Menschen und seine Gefühle im Blick gehabt als das zu bauende Radio, wobei hier das Scheitern nichts Dramatisches hat. Ganz anders ist das im Bild «Der Selbstmörder» von Helmut Kolle. Es entstand 1930, ein Jahr vor dem frühen Tod des Malers mit nur 32 Jahren in Chantilly. Dieses Bild ist ein Meisterwerk. Kolle zeigt den Augenblick nach dem Schuss in die Schläfe, bevor der Mann umfällt. Es fliesst kein Blut, nur ein kleiner Fleck ist zu sehen, aber die Pistole in der linken Hand und die Neigung des Kopfes zeigen, dass der Schuss sass. In dieser Haltung und Geste wird das ganze Leid offenbar. Von sachlicher Distanz ist Kolle hier weit entfernt, wie überhaupt die meisten der hier ausgestellten Maler, auch wenn sie sehr realistisch mit ihren Protagonisten umgehen.
Helmut Kolle, Selbstmörder, 1930
So Lotte Laserstein in dem Frauenbild «Im Gasthaus» von 1927 [s. Kopfbild], in dem sie die «neue Frau» der Weimarer Republik in all ihrer Traurigkeit und Überlastung zeigt. Ihr Frauenbild steht im starken Gegensatz zu jenem Georg Grosz' und Otto Dix', die in dieser Ausstellung mit nur zwei Leihgaben vertreten sind, weil das Lenbachhaus selbst nichts von ihnen besitzt. Beide waren aber schon in der ersten Ausstellung der «Neuen Sachlichkeit» 1925 vertreten, für die Gustav Friedrich Hartlaub diesen Begriff erst geschaffen hat. Grosz und Dix zeigen vom Grossstadtleben meist nur die Halbwelt der Prostitution und des Verbrechens. Dass es aber daneben auch das vergnügliche Leben der kleinen Leute gab, wird sehr authentisch in einem filmischen Experiment von 1930 mit Laiendarstellern vorgeführt, an dem Billy Wilder und Robert Siodmak, die beide später in Hollywood Karriere machen sollten, mitgearbeitet haben. Es hat den schönen Titel «Menschen am Sonntag», spielt in Berlin und verläuft ohne jeden dramatischen Höhepunkt, wobei die Filmemacher ihre Darsteller in keiner Weise distanziert sachlich, sondern sehr liebevoll begleiten.
«Menschliches, Allzumenschliches – Die Neue Sachlichkeit im Lenbachhaus» in München. Bis Ende 2015.
George Grosz, Im Morgengauen
Nota. - Ja, so wird es gewesen sein. Der Trivialität ihres Zauberbergs überdrüssig, hatten sie "wesentlich" werden wollen, und dann haben sie vor Verdun und an der Marne mehr bekommen, als sie bestellt hatten. Da wurden sie bescheiden und in der Form ganz kleinlaut, experimentiert hatten sie einstweilen genug. Es war wie in den fünfziger Jahren. Das Auge und das kriegerische Gemüt waren überreichlich bedient. Die Architektur wurde schlicht, licht und luftig, die Kunst vertändelt und bedeutungslos - was für ein Glück! Schon die nachfolgenede Generation hatte kein Verständnis mehr dafür. Aber rückblickend versteht man, wie nötig es war.
JE
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