Über das Geschmacksurteil
Denis Diderots «goût» im Rückblick - eine Ausstellung in Lausanne
von Gabriel Katzenstein
Ein geflügeltes Wort besagt, dass sich über den Geschmack nicht streiten lasse. Die Fondation de l'Hermitage fokussiert gegenwärtig das Geschmacksurteil Denis Diderots - und der war einer, der über den Geschmack stritt.
Anlässlich einer Podiumsdiskussion an der «photo14» in Zürich prangerte der Verleger Gerhard Steidl die «weltweite Schrottproduktion» im Bereich der Fotografie an. Obwohl sich am Schluss auch das Publikum zu Wort melden konnte, so verlangte doch niemand Aufschluss darüber, was das genau ist, «Schrott». Mag sein, dass zu viele Fotografen anwesend waren, die nicht nach einer kritischen Introspektion verlangten, mag sein, dass über die feinen Unterschiede ein stillschweigender Konsens herrschte. Jedenfalls ging aus den spitz-sarkastischen Äusserungen klar hervor, dass der pekuniäre Aspekt Steidls Beurteilungsvermögen nicht trübt, will heissen, sich guter Geschmack nicht immer gewinnbringend auszahlt. Als Gesprächspartner war der Künstler Philipp Keel geladen, dessen «Color» im Steidl-Verlag erschien, demnach nicht unter das Verdikt «Schrott» fällt. Wie sind dessen atmosphärische
Denis Diderots «goût» im Rückblick - eine Ausstellung in Lausanne
von Gabriel Katzenstein
Ein geflügeltes Wort besagt, dass sich über den Geschmack nicht streiten lasse. Die Fondation de l'Hermitage fokussiert gegenwärtig das Geschmacksurteil Denis Diderots - und der war einer, der über den Geschmack stritt.
Anlässlich einer Podiumsdiskussion an der «photo14» in Zürich prangerte der Verleger Gerhard Steidl die «weltweite Schrottproduktion» im Bereich der Fotografie an. Obwohl sich am Schluss auch das Publikum zu Wort melden konnte, so verlangte doch niemand Aufschluss darüber, was das genau ist, «Schrott». Mag sein, dass zu viele Fotografen anwesend waren, die nicht nach einer kritischen Introspektion verlangten, mag sein, dass über die feinen Unterschiede ein stillschweigender Konsens herrschte. Jedenfalls ging aus den spitz-sarkastischen Äusserungen klar hervor, dass der pekuniäre Aspekt Steidls Beurteilungsvermögen nicht trübt, will heissen, sich guter Geschmack nicht immer gewinnbringend auszahlt. Als Gesprächspartner war der Künstler Philipp Keel geladen, dessen «Color» im Steidl-Verlag erschien, demnach nicht unter das Verdikt «Schrott» fällt. Wie sind dessen atmosphärische
Fotoarbeiten zu beurteilen? Bei Recherchen stossen wir auf eine Rezension von Dirk Knipphals, worin er «Widerhaken» bei Keels Werk ausmacht. Braucht gute Kunst Widerhaken? Uns kommt Giorgio Morandi in den Sinn, bei dessen Stillleben wir dieses Kriterium nicht finden und dessen Werk trotzdem Bestand hat. Unsere Zuneigung gilt Fotografien von Luigi Ghirri genauso wie den beissenden Collagen von John Heartfield, daher wollen uns Widerhaken als Gradmesser nicht einleuchten, wir nutzen sie allein zum Fischen.
Giorgio Morandi, 1920
Dass ein Werturteil in der Kunst keine exakte Wissenschaft darstellt, darauf weist Ernst Gombrich in einem Gespräch mit Didier Eribon hin: «Die Kunstkritik ist eine Glaubenssache: Ich glaube, dass Michelangelo besser ist als Dalí. Beweisen kann ich es aber nicht.» Selbst wenn ein ganzes Land einen Superstar sucht und ihm zujubelt, bietet dies nicht Gewähr, dass in hundert Jahren der Applaus noch nachhallt. Es sei eben leichter, so Gombrich, ein gutes Rennpferd von einem schlechten zu unterscheiden. Auch Beispiele von erfahrenen Galeristen, die nicht selten am Anfang des Selektionsprozesses stehen, zeigen, wie schwierig es ist, frühzeitig Sternschnuppen von Fixsternen zu unterscheiden. Schliesslich sind da die Künstler selbst: Man lese die verächtlichen Äusserungen in «Künstler beschimpfen Künstler» (Reclam), um zu realisieren, dass Geschmacksurteile selbst in erlauchtem Kreis nicht in Stein gemeisselt sind. Über den allermeisten, die ins Rampenlicht treten, schliesst sich der Vorhang nach «15 minutes of fame».
Pietro Antonio
Martini, Salon du Louvre
Du sollst über den Geschmack streiten
Einer, der zwischen Schrott und Edelmetall klar zu unterscheiden wusste, der nicht im Urteil in unverständlichen Worten lavierte oder gänzlich schwieg, war Denis Diderot (1713-1784), dessen dreihundertsten Geburtstag vor einem Jahr gedacht wurde (NZZ 23. 3. und 28. 9. 13) und dem die Fondation de l'Hermitage eine Ausstellung ausrichtet. Im Mittelpunkt rücken Werke von dessen Salonrezensionen. Heutige Leser erleichtert es ungemein, dass seine Urteile nicht aus einem vagen Bauchgefühl heraus erfolgten, sondern er Spielregeln kannte, nach denen er zwischen gut und schlecht unterschied. So lehnte er kalte und unklare Allegorien ab. Ein Werk musste aus sich heraus verständlich sein, es musste das Gefühl des Betrachters ansprechen. Von einem Werk forderte er «Wahrheit»: So standen Porträts, die schonungslos charakterisierten, in seiner Gunst, auch solche, die von ihm gefertigt wurden, ohne gepuderte Perücke. Ein unverkrampftes Verhältnis gegenüber dem Sentimentalen und der Erotik war ihm eigen, er goutierte aber nicht das Fehlen von Anstand und Moral. Er kannte Vorbilder, aber auch Feindbilder.
Du sollst über den Geschmack streiten
Einer, der zwischen Schrott und Edelmetall klar zu unterscheiden wusste, der nicht im Urteil in unverständlichen Worten lavierte oder gänzlich schwieg, war Denis Diderot (1713-1784), dessen dreihundertsten Geburtstag vor einem Jahr gedacht wurde (NZZ 23. 3. und 28. 9. 13) und dem die Fondation de l'Hermitage eine Ausstellung ausrichtet. Im Mittelpunkt rücken Werke von dessen Salonrezensionen. Heutige Leser erleichtert es ungemein, dass seine Urteile nicht aus einem vagen Bauchgefühl heraus erfolgten, sondern er Spielregeln kannte, nach denen er zwischen gut und schlecht unterschied. So lehnte er kalte und unklare Allegorien ab. Ein Werk musste aus sich heraus verständlich sein, es musste das Gefühl des Betrachters ansprechen. Von einem Werk forderte er «Wahrheit»: So standen Porträts, die schonungslos charakterisierten, in seiner Gunst, auch solche, die von ihm gefertigt wurden, ohne gepuderte Perücke. Ein unverkrampftes Verhältnis gegenüber dem Sentimentalen und der Erotik war ihm eigen, er goutierte aber nicht das Fehlen von Anstand und Moral. Er kannte Vorbilder, aber auch Feindbilder.
Christophe-Gabriel
Allegrain, Badende
Zu Beginn des Ausstellungsparcours ist es unabdingbar, dass der Besucher einen Audioguide bezieht, womit er die jeweiligen Salonkritiken Diderots über die Bildnummern abrufen kann, denn hier geht es um Bild und Wort - und was für Worte! Geistreich nuanciert werden die Texte von Jean-Luc Borgeat interpretiert, allerdings nur auf Französisch. Die Ausstellung beginnt mit einer Vitrine mit Manuskripten: Über die «Correspondance littéraire» waren Diderots Gedanken einer kleinen Schar auserlesener Abonnenten zugänglich, Zarin Katharina II. zählte zum Leserinnenkreis. Um die Zensur zu umgehen, waren die Berichte handschriftlich vervielfältigt. Obwohl in der Vitrine auch zwei spröde Salonkataloge der «Académie Royale» aufgeschlagen sind und im Raum eine Radierung von Pietro Antonio Martini mit einer Ansicht des Salons im Louvre hängt, so hätte man sich doch einen interaktiven Katalog gewünscht, wo die Nummern jeweils hätten abgerufen werden können: Was sah Diderot an den Salons? Was besprach er? Was wurde nicht ausgestellt? Das Tool «Sandbox-Gallery» böte die Möglichkeit, einen virtuellen Rundgang durch die historischen Räume zu unternehmen, ja ihn als CD mit den gelesenen Texten dem Ausstellungskatalog beizufügen. Im Parterre finden sich Werke, wo die «Wahrheit» als Beurteilungskriterium steht. Auf der ersten Etage wird die «Magie der Kunst» ins Zentrum gerückt, im Untergeschoss folgen Skulpturen, das Thema «Poesie» sowie ein Raum mit Diderots Schriften. Zahlreiche Publikationen zum Protagonisten runden im Museumsshop die Ausstellung ab.
Zu Beginn des Ausstellungsparcours ist es unabdingbar, dass der Besucher einen Audioguide bezieht, womit er die jeweiligen Salonkritiken Diderots über die Bildnummern abrufen kann, denn hier geht es um Bild und Wort - und was für Worte! Geistreich nuanciert werden die Texte von Jean-Luc Borgeat interpretiert, allerdings nur auf Französisch. Die Ausstellung beginnt mit einer Vitrine mit Manuskripten: Über die «Correspondance littéraire» waren Diderots Gedanken einer kleinen Schar auserlesener Abonnenten zugänglich, Zarin Katharina II. zählte zum Leserinnenkreis. Um die Zensur zu umgehen, waren die Berichte handschriftlich vervielfältigt. Obwohl in der Vitrine auch zwei spröde Salonkataloge der «Académie Royale» aufgeschlagen sind und im Raum eine Radierung von Pietro Antonio Martini mit einer Ansicht des Salons im Louvre hängt, so hätte man sich doch einen interaktiven Katalog gewünscht, wo die Nummern jeweils hätten abgerufen werden können: Was sah Diderot an den Salons? Was besprach er? Was wurde nicht ausgestellt? Das Tool «Sandbox-Gallery» böte die Möglichkeit, einen virtuellen Rundgang durch die historischen Räume zu unternehmen, ja ihn als CD mit den gelesenen Texten dem Ausstellungskatalog beizufügen. Im Parterre finden sich Werke, wo die «Wahrheit» als Beurteilungskriterium steht. Auf der ersten Etage wird die «Magie der Kunst» ins Zentrum gerückt, im Untergeschoss folgen Skulpturen, das Thema «Poesie» sowie ein Raum mit Diderots Schriften. Zahlreiche Publikationen zum Protagonisten runden im Museumsshop die Ausstellung ab.
Chardin, Wasserbehälter
Zauberei im Siècle des Lumières
Man stelle sich vor, ein heutiger Rezensent urteilte über einen Künstler, dieser stehe für den «Verfall des Geschmacks» und er sei «der Ruin aller jungen Schüler der Malerei». - Über François Boucher. Bei anderen Namen gibt sich der Wortgewaltige wortkarg: «Le Bel: Nul. Vénevault: Nul. (. . .) Valade: Rien.» Dann finden sich schmachtend-überschwängliche Äusserungen der Zuneigung: «Eine schöne Gestalt - sehr schön, erhaben. Die Leute sagen sogar, es sei die schönste, die vollkommenste Gestalt, die in der neueren Zeit geschaffen worden sei.» - Über die «Badende» von Christophe-Gabriel Allegrain. Bei seinen Ausführungen zu Jean-Siméon Chardin, «le plus grand magicien»,
Zauberei im Siècle des Lumières
Man stelle sich vor, ein heutiger Rezensent urteilte über einen Künstler, dieser stehe für den «Verfall des Geschmacks» und er sei «der Ruin aller jungen Schüler der Malerei». - Über François Boucher. Bei anderen Namen gibt sich der Wortgewaltige wortkarg: «Le Bel: Nul. Vénevault: Nul. (. . .) Valade: Rien.» Dann finden sich schmachtend-überschwängliche Äusserungen der Zuneigung: «Eine schöne Gestalt - sehr schön, erhaben. Die Leute sagen sogar, es sei die schönste, die vollkommenste Gestalt, die in der neueren Zeit geschaffen worden sei.» - Über die «Badende» von Christophe-Gabriel Allegrain. Bei seinen Ausführungen zu Jean-Siméon Chardin, «le plus grand magicien»,
möchten wir Diderot freundschaftlich umarmen, und beim
«Seestück mit Schiffbruch» von Jacques-Philippe Loutherbourg hören wir
gleichsam die tosende Brandung, das Bersten der Masten und das Wehklagen
der Überlebenden, «ah! mon ami, quelle tempête!». Hymnisch besingt er
die Pygmalion-Galatea-Figurengruppe von Étienne-Maurice Falconet [s. Kopfbild]: «Oh,
wie köstlich ist doch diese kleine Gruppe von Falconet! Dieses Stück
würde ich in meiner Sammlung haben (. . .) Nein, es ist nicht von
Marmor.» Galatea muss Diderot zugeblinzelt haben, denn der Enzyklopädist
erweckt sie in Worten zum Leben. Er schlüpft selbst in die Rolle
Pygmalions. Eins zu eins wird hier ein ut pictura poesis praktiziert.
Doch Hand aufs Herz: Was sollen wir davon halten, wenn ein
Kunstliebhaber in der Betrachtung von Öl auf Leinwand oder Marmor ein
bestimmt innig empfundenes «Poésie!» über die Lippen seufzt?
Bernhard Luginbühl mit Werken
Was ist das eigentlich, Poesie? In den Spalten dieser Zeitung wurden 2003 Bernhard Luginbühls tonnenschwere Schrott-Ungetüme als «eisenschwere Poesie» beschrieben. Zweifellos werden jetzt gewissenhafte Philologen raten, die «Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens in Frankreich» oder die «Encyclopédie» zurate zu ziehen. Doch es ist eben nicht so einfach, die Gegenwart abzustreifen. Als wir unseren Rundgang unternahmen, musterte ein Zeichenlehrer aufmerksam die einst gefeierte Pygmalion-Statue und meinte abwägend zu seinem Schüler gewandt, «c'est évidemment kitsch», sprich «mauvais goût». Ein solch fatales Urteil brennt sich dem Schüler ins Gedächtnis ein. Nur wenige Menschen leisten sich den Luxus eines eigenen Geschmacksurteils.
Bernhard Luginbühl mit Werken
Was ist das eigentlich, Poesie? In den Spalten dieser Zeitung wurden 2003 Bernhard Luginbühls tonnenschwere Schrott-Ungetüme als «eisenschwere Poesie» beschrieben. Zweifellos werden jetzt gewissenhafte Philologen raten, die «Schlüsselbegriffe des kunsttheoretischen Denkens in Frankreich» oder die «Encyclopédie» zurate zu ziehen. Doch es ist eben nicht so einfach, die Gegenwart abzustreifen. Als wir unseren Rundgang unternahmen, musterte ein Zeichenlehrer aufmerksam die einst gefeierte Pygmalion-Statue und meinte abwägend zu seinem Schüler gewandt, «c'est évidemment kitsch», sprich «mauvais goût». Ein solch fatales Urteil brennt sich dem Schüler ins Gedächtnis ein. Nur wenige Menschen leisten sich den Luxus eines eigenen Geschmacksurteils.
Le goût de Diderot. Fondation de l'Hermitage, Lausanne. Bis 1. Juni 2014. Katalog.
Unbekannter Maler, Diderot im Schlafrock
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