Dienstag, 4. März 2014

Eine spannende baukünstlerische Vision.


aus  NZZ, 25. 2. 2014

Mehr Phantasie, bitte!
Trotz einer wachsenden Zahl schriller Bauten gibt es noch immer viel zu wenig interessante Architektur

von Gabriele Detterer

Um in visionäre baukünstlerische Dimensionen vorzustossen, müssen Architekten statische, funktionale und ästhetische Aspekte mit raumplastischer Phantasie vereinen. Phantasie ist nötig, wenn das Korsett dekorierter Kisten- und Kasten-Architektur aufgebrochen werden soll. 

Auf diese Idee musste man erst einmal kommen! Vor vierzig Jahren befasste sich der englische Architekt Peter Cook damit, architektonische Inhalte in poröse, weiche, schwammige Gebilde hineinzuprojizieren und diese Schwämme mit Treppen, Türen und Fensteröffnungen so zu verformen, dass der organisch gewachsene Körper bewohnbar schien. Mit dem Entwurf der «Sponge Buildings» wagte Cook, Mitbegründer der einflussreichen avantgardistischen Gruppe Archigram, im Jahre 1974 einen vielbeachteten Ausflug in die Welt der utopischen, radikalen Bauideen und liess sich hierbei, wie viele Erfinder phantastischer Architektur, von der Beobachtung der Natur inspirieren. Die «fabelhaft» wirkenden Schwamm-Gebäude seien ein Seitenweg des Entwerfens, lautete damals Cooks Kommentar zu den «Sponge Buildings», und dieser Pfad befasse sich mit dem Vokabular «extrem natürlicher und extrem künstlicher Bedingungen» von Formgestalt.
 Peter Cook, Sponge Building

Wassertropfen und Wolken

Die Schwamm-Häuser hatten nie eine Chance, realisiert zu werden. Der utopische Entwurf zieht seine Bedeutung aus dem metaphorischen Inhalt und der Botschaft, dass lebenswerte bauliche Texturen veränderbar sein sollten, d. h. elastisch, weich und anpassungsfähig gegenüber Mensch und Umwelt. Taugen die «Sponge Buildings» folglich nur als Sinnbild? Mitnichten. Würde man Ausflüge in das Reich «zweckloser» Bauphantasien ersatzlos streichen, wäre der Suche nach innovativer, zukunftsweisender Formgestalt der Boden entzogen. Mehr Phantasie aber ist heute dringend vonnöten. Denn die Ausrichtung der Planung auf Zweck, Funktion und - bei der immer wichtiger werdenden Investorenarchitektur - auch auf Rendite bestimmt den Prozess des baulichen Entwerfens und bildet eine Schere im Kopf kreativer Denker. Zudem lässt der heutige Retro-Trend zurück zu materialschweren Steinbauten all die ephemeren «Luftbauten», die das Architekturdenken über konventionelle Baupraxis und Sachzwänge hinaustragen, ins Hintertreffen geraten. Unvergessen bleibt der «Blur Pavillon» der Schweizer Expo 02, den Diller & Scofidio in Yverdon auf den See gezaubert haben - von nichts als leichtem Sprühnebel umhüllt. Oder Sou Fujimotos «Cloud Pavilion», der 2013 gleich einer Wolke die bisherigen Serpentine Gallery Pavilions überflügelte und als Gebilde weit ausgreifender räumlicher Phantasie die Vorstellungskraft anregte. Der Pavillon stelle die Frage, inwieweit Architektur Teil der Natur sein könne und wo die Grenzlinie zwischen «nature and artificial things» verlaufe, so kommentierte Sou Fujimoto sein Werk.

Diller & Scofidio , Blur Pavillon, Yverdon

Ob «Sponge» oder «Cloud», ob Pilzform oder Tragwerkgeäst, es ist die Beobachtung von Naturphänomenen und deren phantasievolle Übertragung auf Bauideen und Konstruktionen, die Neues in der Architektur hervorbringen können. Dies galt schon für den Entwurf des 1851 von John Paxton in London realisierten Crystal Palace. Der Botaniker und Architekt entlehnte das Konstruktionsprinzip des Glaspalastes der baulichen Struktur einer Seerose: der Victoria amazonica. Deren Wuchsform stelle, so Paxton, ein natürliches Kunststück der Ingenieurtechnik dar. Denn die «Bauform» der Wasserpflanze basiere auf einem Tragwerknetz aus strahlenförmig verlaufenden Rippen und Querrippen. Paxton nutzte dieses «Bausystem» zunächst für den Plan eines Gewächshauses, um später seine konstruktionstechnische Erfindung auf den grossen Massstab des Kristallpalasts zu übertragen. Er schuf damit eine architektonische Sensation. 

 Crystal Palace

Im Computerzeitalter regt der unerschöpfliche Erfindungsreichtum der Natur kreative Geister immer wieder zu bauplastischen Höhenflügen an. Das zeigen die Formfindungen des britischen Bauingenieurs und Künstlerarchitekten Cecil Balmond. Was wir als spontanes Wuchern von Strukturen wahrnähmen oder als ein vom Zufall determiniertes Chaos klassifizierten, sei nichts anderes als ein «Mix verschiedener Ordnungssysteme», sagt Cecil Balmond.


Der seit 2010 selbständig tätige ehemalige Mitarbeiter des international erfolgreichen Ingenieurbüros Arup überwindet mit fraktalen Modellen die Grenzen euklidischer Geometrie. Zu Projekten, welche den rechtwinkligen architektonischen Raum aus den Angeln heben, lässt sich Balmond von pflanzlicher Morphologie wie auch von mittelalterlicher Zahlenmystik inspirieren (NZZ 14. 6. 07). Ob vielfach durchbrochene Origami-Strukturen, Wabenmuster oder eine Kugel - die phantastischen Formen der Serpentine-Pavillons von Toyo Ito (2002), Alvaro Siza (2005) oder von Rem Koolhaas (2006), der seit der Rotterdamer Kunsthal und der Central Library in Seattle immer wieder vom Genie des Künstleringenieurs zu profitieren weiss, beruhen auf der Regelhaftigkeit bautechnischer Modelle, deren Logarithmen Cecil Balmond ebenso austüftelte wie die Aussenform von Shigeru Bans Centre Pompidou in Metz. Als Ingenieur, Designer und Musiker schöpft Balmond aus seinen Fachgebieten kreativen Elan - wovon der 2012 mit Anish Kapoor für die Olympischen Spiele in London realisierte Orbit-Aussichtsturm oder das jüngst mit Charles Jencks für die Commonwealth Games in Glasgow entwickelte Projekt eines «Star of Caledonia» zeugen.

Star of Caledonia

Gestein und Mineralien

Aber auch andere Visionäre lassen sich vom Cross-over getrennter Disziplinen inspirieren. So bezeichnet einer der phantasievollsten Vertreter der jüngeren Architektengeneration, der Däne Bjarke Ingels vom Kopenhagener Büro BIG, das 1997 von Manuel De Landa veröffentlichte Buch «A Thousand Years of Nonlinear History» (1997) als eine seiner frühen, wichtigen Inspirationsquellen. De Landas Erforschung der Morphogenese im weitesten Sinn inspirierte Ingels und erlaubt es ihm, auf der magisch flirrenden Scheidelinie zwischen extrem natürlicher und extrem künstlicher Architektur mit akrobatischer Sicherheit zu jonglieren. Nah bei und gleichzeitig fern von natürlicher Gesteinsschichtung muten Ingels' «Mountain Dwellings» (2008) in Kopenhagen-Ørestad an, während sein dänischer Expo-Pavillon in Schanghai 2010 an das Gewinde einer Schnecke erinnerte.

 Bjarke Ingels, Mountain Dwellings

Neugier und Begabung sind Grundbedingungen, damit ein Architekt seine bauästhetische Kreativität nicht durch die eingefahrenen Bahnen einer Profession oder die strikten Vorgaben der Auftraggeber knebeln lässt. Ein Blick zurück auf ihrer Zeit vorauseilende Visionäre kann ebenfalls zu einem kreativen Schub verhelfen. So ist im Zusammenhang mit Peter Cooks «Sponge Buildings», die noch in dessen Grazer Kunsthaus nachklingen, daran zu erinnern, dass bereits Le Corbusier auf das Sinnbild des organischen, licht- und luftdurchlässigen Schwamms Bezug nahm: 1925 umschrieb er seine Vorstellung eines von Leerräumen perforierten Hauses als «Riesenschwamm, der Luft aufsaugt» und das Haus atmen lässt. Nicht nur grüne Lungen, d. h. Parkanlagen, sondern auch Stadthäuser, die Luft holen können, machen Urbanität lebenswert. Mehr Phantasie ist also gefragt im von Atemlosigkeit geplagten internationalen Architekturbetrieb. Kreative Baukünstler wie Balmond, Fujimoto, Ingels oder Herzog & de Meuron (etwa mit ihrem Entwurf eines tannzapfenartigen Hochhauses für Davos) jedenfalls kämpfen immer wieder für die Umsetzung ihrer Ideen.
Antoni Gaudì, Casa Milá, Barcelona

Nota. - Die Neue Zürcher ist fürwahr ein liberales Blatt, die drucken sogar solchen Mist. Schrille Bauten gibt es nicht bloß genug, sondern schon zu viele. Ob die Künstler, die so etwas aushecken, sich dabei, wie Gaudì vor hundert Jahren, von der Natur inspirieren lassen oder von Designerdrogen, ist gänzlich wurscht. Es kommt immer nur darauf an, was für Bauten daraus entstehen. Dienen sie ihrem Zweck? Welche Funktion haben sie für das urbane Ensemble, in dem sie stehen?  Und schließlich: Wie fügen sie sich ästhetisch in ihre Umgebung ein - harmonisch oder dissonant, und wie passt das in die Stadt?  Nur eins, Frau Detterer, spielt wirklich gar keine Rolle: ob Architekturkritiker sie "interessant" finden; ich wundere mich nur, dass Sie nicht spannend geschrieben haben. 
JE   

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