aus NZZ, 25. 2. 2014
Mehr Phantasie, bitte!
Trotz einer wachsenden Zahl schriller Bauten gibt es noch immer viel zu wenig interessante Architektur
Trotz einer wachsenden Zahl schriller Bauten gibt es noch immer viel zu wenig interessante Architektur
von Gabriele Detterer
Um in visionäre baukünstlerische Dimensionen vorzustossen, müssen Architekten statische, funktionale und ästhetische Aspekte mit raumplastischer Phantasie vereinen. Phantasie ist nötig, wenn das Korsett dekorierter Kisten- und Kasten-Architektur aufgebrochen werden soll.
Auf diese Idee musste man erst einmal kommen! Vor vierzig Jahren befasste sich der englische Architekt Peter Cook damit, architektonische Inhalte in poröse, weiche, schwammige Gebilde hineinzuprojizieren und diese Schwämme mit Treppen, Türen und Fensteröffnungen so zu verformen, dass der organisch gewachsene Körper bewohnbar schien. Mit dem Entwurf der «Sponge Buildings» wagte Cook, Mitbegründer der einflussreichen avantgardistischen Gruppe Archigram, im Jahre 1974 einen vielbeachteten Ausflug in die Welt der utopischen, radikalen Bauideen und liess sich hierbei, wie viele Erfinder phantastischer Architektur, von der Beobachtung der Natur inspirieren. Die «fabelhaft» wirkenden Schwamm-Gebäude seien ein Seitenweg des Entwerfens, lautete damals Cooks Kommentar zu den «Sponge Buildings», und dieser Pfad befasse sich mit dem Vokabular «extrem natürlicher und extrem künstlicher Bedingungen» von Formgestalt.
Peter Cook, Sponge Building
Wassertropfen und Wolken
Wassertropfen und Wolken
Die Schwamm-Häuser hatten nie eine
Chance, realisiert zu werden. Der utopische Entwurf zieht seine
Bedeutung aus dem metaphorischen Inhalt und der Botschaft, dass
lebenswerte bauliche Texturen veränderbar sein sollten, d. h.
elastisch, weich und anpassungsfähig gegenüber Mensch und Umwelt. Taugen
die «Sponge Buildings» folglich nur als Sinnbild? Mitnichten. Würde man
Ausflüge in das Reich «zweckloser» Bauphantasien ersatzlos streichen,
wäre der Suche nach innovativer, zukunftsweisender Formgestalt der Boden
entzogen. Mehr Phantasie aber ist heute dringend vonnöten. Denn die
Ausrichtung der Planung auf Zweck, Funktion und - bei der immer
wichtiger werdenden Investorenarchitektur - auch auf Rendite bestimmt
den Prozess des baulichen Entwerfens und bildet eine Schere im Kopf
kreativer Denker. Zudem lässt der heutige Retro-Trend zurück zu
materialschweren Steinbauten all die ephemeren «Luftbauten», die das
Architekturdenken über konventionelle Baupraxis und Sachzwänge
hinaustragen, ins Hintertreffen geraten. Unvergessen bleibt der «Blur
Pavillon» der Schweizer Expo 02, den Diller & Scofidio in Yverdon
auf den See gezaubert haben - von nichts als leichtem Sprühnebel
umhüllt. Oder Sou Fujimotos «Cloud Pavilion», der 2013 gleich einer
Wolke die bisherigen Serpentine Gallery Pavilions überflügelte und als
Gebilde weit ausgreifender räumlicher Phantasie die Vorstellungskraft
anregte. Der Pavillon stelle die Frage, inwieweit Architektur Teil der
Natur sein könne und wo die Grenzlinie zwischen «nature and artificial
things» verlaufe, so kommentierte Sou Fujimoto sein Werk.
Diller & Scofidio , Blur Pavillon, Yverdon
Diller & Scofidio , Blur Pavillon, Yverdon
Ob «Sponge» oder «Cloud», ob
Pilzform oder Tragwerkgeäst, es ist die Beobachtung von Naturphänomenen
und deren phantasievolle Übertragung auf Bauideen und Konstruktionen,
die Neues in der Architektur hervorbringen können. Dies galt schon für
den Entwurf des 1851 von John Paxton in London realisierten Crystal
Palace. Der Botaniker und Architekt entlehnte das Konstruktionsprinzip
des Glaspalastes der baulichen Struktur einer Seerose: der Victoria
amazonica. Deren Wuchsform stelle, so Paxton, ein natürliches Kunststück
der Ingenieurtechnik dar. Denn die «Bauform» der Wasserpflanze basiere
auf einem Tragwerknetz aus strahlenförmig verlaufenden Rippen und
Querrippen. Paxton nutzte dieses «Bausystem» zunächst für den Plan eines
Gewächshauses, um später seine konstruktionstechnische Erfindung auf
den grossen Massstab des Kristallpalasts zu übertragen. Er schuf damit
eine architektonische Sensation.
Crystal Palace
Crystal Palace
Im Computerzeitalter regt der
unerschöpfliche Erfindungsreichtum der Natur kreative Geister immer
wieder zu bauplastischen Höhenflügen an. Das zeigen die Formfindungen
des britischen Bauingenieurs und Künstlerarchitekten Cecil Balmond. Was
wir als spontanes Wuchern von Strukturen wahrnähmen oder als ein vom
Zufall determiniertes Chaos klassifizierten, sei nichts anderes als ein
«Mix verschiedener Ordnungssysteme», sagt Cecil Balmond.
Der seit 2010 selbständig tätige ehemalige Mitarbeiter des international erfolgreichen Ingenieurbüros Arup überwindet mit fraktalen Modellen die Grenzen euklidischer Geometrie. Zu Projekten, welche den rechtwinkligen architektonischen Raum aus den Angeln heben, lässt sich Balmond von pflanzlicher Morphologie wie auch von mittelalterlicher Zahlenmystik inspirieren (NZZ 14. 6. 07). Ob vielfach durchbrochene Origami-Strukturen, Wabenmuster oder eine Kugel - die phantastischen Formen der Serpentine-Pavillons von Toyo Ito (2002), Alvaro Siza (2005) oder von Rem Koolhaas (2006), der seit der Rotterdamer Kunsthal und der Central Library in Seattle immer wieder vom Genie des Künstleringenieurs zu profitieren weiss, beruhen auf der Regelhaftigkeit bautechnischer Modelle, deren Logarithmen Cecil Balmond ebenso austüftelte wie die Aussenform von Shigeru Bans Centre Pompidou in Metz. Als Ingenieur, Designer und Musiker schöpft Balmond aus seinen Fachgebieten kreativen Elan - wovon der 2012 mit Anish Kapoor für die Olympischen Spiele in London realisierte Orbit-Aussichtsturm oder das jüngst mit Charles Jencks für die Commonwealth Games in Glasgow entwickelte Projekt eines «Star of Caledonia» zeugen.
Der seit 2010 selbständig tätige ehemalige Mitarbeiter des international erfolgreichen Ingenieurbüros Arup überwindet mit fraktalen Modellen die Grenzen euklidischer Geometrie. Zu Projekten, welche den rechtwinkligen architektonischen Raum aus den Angeln heben, lässt sich Balmond von pflanzlicher Morphologie wie auch von mittelalterlicher Zahlenmystik inspirieren (NZZ 14. 6. 07). Ob vielfach durchbrochene Origami-Strukturen, Wabenmuster oder eine Kugel - die phantastischen Formen der Serpentine-Pavillons von Toyo Ito (2002), Alvaro Siza (2005) oder von Rem Koolhaas (2006), der seit der Rotterdamer Kunsthal und der Central Library in Seattle immer wieder vom Genie des Künstleringenieurs zu profitieren weiss, beruhen auf der Regelhaftigkeit bautechnischer Modelle, deren Logarithmen Cecil Balmond ebenso austüftelte wie die Aussenform von Shigeru Bans Centre Pompidou in Metz. Als Ingenieur, Designer und Musiker schöpft Balmond aus seinen Fachgebieten kreativen Elan - wovon der 2012 mit Anish Kapoor für die Olympischen Spiele in London realisierte Orbit-Aussichtsturm oder das jüngst mit Charles Jencks für die Commonwealth Games in Glasgow entwickelte Projekt eines «Star of Caledonia» zeugen.
Gestein und Mineralien
Aber auch andere Visionäre lassen
sich vom Cross-over getrennter Disziplinen inspirieren. So bezeichnet
einer der phantasievollsten Vertreter der jüngeren
Architektengeneration, der Däne Bjarke Ingels vom Kopenhagener Büro BIG,
das 1997 von Manuel De Landa veröffentlichte Buch «A Thousand Years of
Nonlinear History» (1997) als eine seiner frühen, wichtigen
Inspirationsquellen. De Landas Erforschung der Morphogenese im weitesten
Sinn inspirierte Ingels und erlaubt es ihm, auf der magisch flirrenden
Scheidelinie zwischen extrem natürlicher und extrem künstlicher
Architektur mit akrobatischer Sicherheit zu jonglieren. Nah bei und
gleichzeitig fern von natürlicher Gesteinsschichtung muten Ingels'
«Mountain Dwellings» (2008) in Kopenhagen-Ørestad an, während sein
dänischer Expo-Pavillon in Schanghai 2010 an das Gewinde einer Schnecke
erinnerte.
Bjarke Ingels, Mountain Dwellings
Bjarke Ingels, Mountain Dwellings
Neugier und Begabung sind
Grundbedingungen, damit ein Architekt seine bauästhetische Kreativität
nicht durch die eingefahrenen Bahnen einer Profession oder die strikten
Vorgaben der Auftraggeber knebeln lässt. Ein Blick zurück auf ihrer Zeit
vorauseilende Visionäre kann ebenfalls zu einem kreativen Schub
verhelfen. So ist im Zusammenhang mit Peter Cooks «Sponge Buildings»,
die noch in dessen Grazer Kunsthaus nachklingen, daran zu erinnern, dass
bereits Le Corbusier auf das Sinnbild des organischen, licht- und
luftdurchlässigen Schwamms Bezug nahm: 1925 umschrieb er seine
Vorstellung eines von Leerräumen perforierten Hauses als «Riesenschwamm,
der Luft aufsaugt» und das Haus atmen lässt. Nicht nur grüne Lungen, d.
h. Parkanlagen, sondern auch Stadthäuser, die Luft holen können,
machen Urbanität lebenswert. Mehr Phantasie ist also gefragt im von
Atemlosigkeit geplagten internationalen Architekturbetrieb. Kreative
Baukünstler wie Balmond, Fujimoto, Ingels oder Herzog & de Meuron
(etwa mit ihrem Entwurf eines tannzapfenartigen Hochhauses für Davos)
jedenfalls kämpfen immer wieder für die Umsetzung ihrer Ideen.
Nota. - Die Neue Zürcher ist fürwahr ein liberales Blatt, die drucken sogar solchen Mist. Schrille Bauten gibt es nicht bloß genug, sondern schon zu viele. Ob die Künstler, die so etwas aushecken, sich dabei, wie Gaudì vor hundert Jahren, von der Natur inspirieren lassen oder von Designerdrogen, ist gänzlich wurscht. Es kommt immer nur darauf an, was für Bauten daraus entstehen. Dienen sie ihrem Zweck? Welche Funktion haben sie für das urbane Ensemble, in dem sie stehen? Und schließlich: Wie fügen sie sich ästhetisch in ihre Umgebung ein - harmonisch oder dissonant, und wie passt das in die Stadt? Nur eins, Frau Detterer, spielt wirklich gar keine Rolle: ob Architekturkritiker sie "interessant" finden; ich wundere mich nur, dass Sie nicht spannend geschrieben haben.
JE
Antoni Gaudì, Casa Milá, Barcelona
Nota. - Die Neue Zürcher ist fürwahr ein liberales Blatt, die drucken sogar solchen Mist. Schrille Bauten gibt es nicht bloß genug, sondern schon zu viele. Ob die Künstler, die so etwas aushecken, sich dabei, wie Gaudì vor hundert Jahren, von der Natur inspirieren lassen oder von Designerdrogen, ist gänzlich wurscht. Es kommt immer nur darauf an, was für Bauten daraus entstehen. Dienen sie ihrem Zweck? Welche Funktion haben sie für das urbane Ensemble, in dem sie stehen? Und schließlich: Wie fügen sie sich ästhetisch in ihre Umgebung ein - harmonisch oder dissonant, und wie passt das in die Stadt? Nur eins, Frau Detterer, spielt wirklich gar keine Rolle: ob Architekturkritiker sie "interessant" finden; ich wundere mich nur, dass Sie nicht spannend geschrieben haben.
JE
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