Phantastische Malerei in der Frührenaissance
Erzählfreude statt Realismus
Giovanni di Paolo suchte in seinen Bildern nach maximaler Intensität – und entschied sich dabei bewusst gegen eine möglichst wirklichkeitsnahe Darstellung, wie sie zu jener Zeit Mode war. Das zeigt unter anderem seine «Kreuzigung Christi» in der Berliner Gemäldegalerie
von Peter Bürger
Im Jahre 1425 vollendet Masaccio seine «Dreifaltigkeit», mit der er die von Brunelleschi entwickelte Zentralperspektive in die Malerei einführt, dabei sogar die vor dem Bild knienden Stifter mit in die kühne perspektivische Konstruktion einbeziehend. 40 Jahre später malt sein sienesischer Generationsgenosse Giovanni di Paolo die kleine Predellentafel «Der heilige Hieronymus erscheint dem heiligen Augustinus» [s. weiter unten], die auf den ersten Blick wie eine Parodie der zentralperspektivischen Darstellung aussieht. Die extreme Untersicht bei Masaccio ist durch eine deutliche Aufsicht ersetzt, die freilich nicht zentriert ist; vielmehr fluchten die Dächer der von oben gesehenen Gebäude, in die der Betrachter hineinschaut, in ganz verschiedene Richtungen. Die Blumen, die links und rechts die Tafel rahmen, sind dagegen in deutlicher Untersicht wiedergegeben. Ein Verfahren, um die Anhänger der Zentralperspektive zu irritieren? Wie dem auch sei, jedenfalls verwendet Giovanni es auch auf dem Londoner Bild «Der Täufer geht in die Wüste».
Der Täufer geht in die Wüste
Vor Kälte zitternd
In seinen kunstgeschichtlich wirkmächtigen Lebensbeschreibungen macht Vasari Masaccio zum Begründer der wirklichkeitsgetreuen Malerei der Frührenaissance. Als Erster habe dieser eine nackte Gestalt geschaffen, die vor Kälte zittert. Das Kriterium, an dem er die Leistung des Malers misst, ist dessen Beitrag zu einer lebendigen, wirklichkeitsnahen Darstellung. Da Giovanni di Paolo einen solchen nicht leistet, ja vielleicht nicht leisten wollte, wird er von Vasari nicht einmal erwähnt.
Der heilige Hieronymus erscheint dem heiligen Augustinus
Aus der Sicht Vasaris ist das nachvollziehbar. Dass es auch andere Kriterien gibt, wird erkennbar, wenn man sich in die «Kreuzigung Christi» von Giovanni di Paolo versenkt [Kopfbild], die in der Berliner Gemäldegalerie bewahrt wird. Die Gruppe der drei klagenden Frauen links im Bildvordergrund ist von ergreifender Intensität, die der Maler vor allem durch Ausdrucksgebärden erreicht. Maria hat die Hände über dem Kopf verschränkt, eine hinter ihr stehende Heilige die Arme verzweifelt emporgehoben, während Maria Magdalena im roten Gewand die weit geöffneten leeren Hände verkrampft vor sich hält, als wollte sie zeigen, dass sie mit dem Tod Christi alles verloren habe. Gesteigert wird der Ausdruck der Szene dadurch, dass auf der gegenüberliegenden Seite des Bildes das Spiel der Hände der miteinander diskutierenden Alten eine ganz andere Botschaft vermittelt: Nicht Ausdruck der Betroffenheit ist es hier, sondern gestische Unterstreichung des Arguments.
Simone Martini, Grablegung Christi
Nicht nur durch die Verwendung des Goldgrundes, sondern vor allem durch die Gestik der Gestalten weist die kleine Predellentafel Giovannis, die auf die 1440er Jahre datiert wird, auf die Tradition der grossen sienesischen Malerei des frühen 14. Jahrhunderts zurück. Das wird deutlich, wenn man sich der kaum mehr als handgrossen «Grablegung Christi» von Simone Martini zuwendet, die unweit der Tafel von Giovanni hängt. Auch hier ist die Klage durch eine geradezu exzentrische Gestik veranschaulicht. Eine nicht zum engeren Kreis der um den Leichnam Christi Versammelten gehörende Frau in rotem Gewand hat schreiend ihre Arme mit einer solch unbändigen Verzweiflung emporgerissen, dass der neben ihr stehende Johannes der Täufer sich ihr zuwendet, sie mit seiner Linken berührend, um sie zu beruhigen. Während Simone Martini den Ausdruck des Schmerzes durch die anrührende Szene verstärkt, erreicht Giovanni eine vergleichbare Wirkung durch das Mittel des Kontrasts. Beide Künstler aber scheinen das Rot der Gestalt vorzubehalten, deren Klage von ganz besonderer Heftigkeit ist. Den bewussten Rückgriff auf die ein Jahrhundert zurückliegende Tradition der sienesischen Malerei wird man bei Giovanni, der den Reformorden der Franziskaner und der Dominikaner nahestand, am ehesten als Treue zu den Formfindungen einer zutiefst religiösen Malerei verstehen.
Die hl. Klara rettet Schiffbrüchige
Eine Aneinanderreihung von Zeichen
Dass Giovanni di Paolo andere Prioritäten setzt als die von Vasari kanonisierten Maler der Frührenaissance und wie weit er sich dabei aus bewusster künstlerischer Entscheidung von dem Bemühen um eine wirklichkeitsnahe Darstellung entfernen kann, das seine Zeitgenossen umtreibt, macht die ebenfalls in Berlin befindliche Tafel «Die heilige Klara rettet Schiffbrüchige» deutlich. Giovanni gibt die Wellen hier als kleine dunkelgrüne Hügel wieder, die durch weissliche Bänder miteinander verbunden sind. Das havarierte Schiff aber wird nicht etwa von den Elementen hin und her geworfen, sondern steht waagerecht in dieser seltsam unbewegten Meereslandschaft. Nur der Stumpf eines Masts, gebrochene Rahen und Fetzen eines Segels zeigen die Gefahr an, in der sich die Schiffbrüchigen befinden. Deren Köpfe, die über der Bordkante sichtbar werden, sind freilich viel zu gross, als dass ihre Körper in dem Rumpf des Schiffes Platz finden könnten. Über dem Schiff aber schwebt die Heilige, mit ihrer Rechten in die Takelage greifend, während sich ihre Linke der Bordkante nähert, Bereitschaft zur Hilfe signalisierend. Offenbar geht es dem Maler nicht darum, die Lage der zwischen Todesangst und Hoffnung auf Rettung schwankenden Bootsinsassen anschaulich wiederzugeben (wir sehen ja von ihnen nur ihr schemenhaftes Profil); vielmehr scheint er hier mit einer rein zeichenhaften Malerei zu experimentieren, wie sie Bonaiuto in der Spanischen Kapelle von Santa Maria Novella in Florenz verwirklicht hat. In der Tat besteht das Bild Giovannis aus einer Aneinanderreihung von Zeichen, die Meer, Schiffbruch und Rettung bedeuten. Es ruft im Betrachter das Wissen um die Taten der Heiligen wach, verzichtet aber auf eine lebendige Darstellung des Ereignisses. Wenn wir den Thesen von Alexander Perrig folgen, entspräche eine derart intellektuelle Malerei den Vorstellungen der Dominikaner, die den «Naturstil» der Giotto-Schule bekämpften. Dass Vasari für eine solche Malerei kein Verständnis hatte, versteht sich; ist doch Lebendigkeit sein zentrales Bewertungskriterium.
Erschaffung der Welt und Vertreibung aus dem Paradies
Dass Giovanni di Paolo weit mehr ist als ein verspäteter Nachfahre der grossen sienesischen Maler des 14. Jahrhunderts, dafür spricht die ausserordentliche Kraft seiner Phantasie. Ein Bild der Robert Lehman Collection vereinigt zwei Motive: die Erschaffung der Welt und die Vertreibung aus dem Paradies. Auf der linken Seite des Bildes sehen wir einen von blauen Engeln umgebenen Gottvater ein den Erdteller vorstellendes Riesenrad rollen, auf dem Festland und Meer durch eine formlose Masse getrennt sind. Das Rad berührt fast die Ferse des nackten Engels, der, den sich umblickenden Adam mit beiden Händen berührend, das verlorene erste Menschenpaar eher zu beruhigen als zu vertreiben scheint. Im Vordergrund davor erblickt man vier schwarze Formen, die an die Schlangenköpfe auf Henri Rousseaus Bild «Schlangenbeschwörerin» von 1907 erinnern. Der Gegensatz der beiden Bildhälften, die nur durch die Bewegung nach rechts miteinander verbunden sind, könnte nicht grösser sein. Links das bedrohlich erscheinende Schöpfungsrad, rechts die schutzlos und zerbrechlich wirkenden menschlichen Gestalten und vor ihnen die vier schwarzen Schlangenköpfe. Auch auf dem «Triumph des Todes» galoppiert der Todesreiter vor einem düsteren, ebenfalls an Henri Rousseau erinnernden Wald auf eine Gestalt zu, die die Hände vergeblich zum Gebet gefaltet hat; denn sie fällt bereits um, vom Pfeil des bogenschiessenden Todes getroffen.
Trionfo della morte, Buchillumination
Fragt man sich, welches die Gründe sein könnten, die einen Maler dazu veranlasst haben, sich derart entschieden gegen die epochalen Tendenzen der Malerei seiner Zeit zu definieren, so sehe ich zwei möglich Antworten. Es ist durchaus vorstellbar, dass im 15. Jahrhundert ein relevanter Teil der Auftraggeber von Werken bildender Kunst die Hinwendung zum «Naturstil» der Frührenaissance nicht mitvollzogen hat, dass es daher, besonders in einer Stadt wie Siena, die in Rivalität zu Florenz stand, Käufer für eine Kunst gab, die sich an der Blütezeit der sienesischen Malerei orientierte und Neuerungen nicht auf der Ebene der künstlerischen Verfahren, sondern im Bereich phantasievoller erzählerischer Bildfindungen suchte. Und es ist darüber hinaus denkbar, dass es Auftraggeber und Maler gab, die in der immer virtuoseren Beherrschung des Metiers durch die neue florentinische Malerei eine Art Verrat an der überlieferten religiösen Aufgabe der Malerei sahen.
Madonna mit Kind
Den Innovationsdrang verstehen
Nun muss man sich deutlich machen, dass Giovanni di Paolo ja durchaus keinen Einzelfall in der sienesischen Malerei des 15. Jahrhunderts darstellt, für die die Bindung an die Tradition vielmehr allgemein charakteristisch ist (man denke nur an Giovannis Zeitgenossen Sassetta). Friedrich Antal geht noch einen Schritt weiter und spricht von einer «grossen durchgehenden gotischen Grundstimmung der italienischen Kunst», von der im 15. Jahrhundert nicht nur die sienesische, sondern auch die florentinische Kunst ergriffen werde (er denkt dabei vor allem an Botticelli). Wenn es weiterhin stimmt – was Peter Burke in seiner Studie über Kultur und Gesellschaft der Renaissance notiert –, dass der Begriff der Neuerung in der Renaissance eher eine pejorative Bedeutung hatte, dann bestünde die Schwierigkeit darin, den Innovationsdrang der Epoche zu verstehen und nicht das Werk von Malern wie Giovanni und Sassetta.
Prof. Peter Bürger hat bis 1998 an der Universität Bremen Literaturwissenschaft und ästhetische Theorie gelehrt.
Nota. - Aber er konnte auch zeitgemäß, wie das obige Altarbild zeigt. Es befindet sich in der Pinakothek von Siena, ein Entstehungsjahr habe ich nicht finden können. Ist es ein Zeichen künstlerischer Reifung oder eine Sache veränderter Nachfrage? Ein Kreuzigung aus den dreißiger Jahren ist nicht bloß 'noch gotischer', sondern geradezu in maniera greca:
JE
Sehr verdienstvolle Illustration des Artikels von Peter Bürger in der NZZ, umsomehr, als es heutzutage nicht so leicht ist an Abbildungen dieser Werke heranzukommen (ebenso wie an Literatur über diesen Maler.) Vielen Dank!
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AntwortenLöschenSie unterschätzen die Ergiebigkeit des Internets. Da habe ich meine Bilder her. Fürs suchen braucht man ein kleines bisschen Übung, aber dann ist's ganz einfach. Vielen Danke aber für das Lob, denn Mühe macht es ja doch. J.E.
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