Montag, 12. Januar 2015

Kann eine Stadt modern sein?

aus nzz.ch, 4.1.2015, 05:30 Uhr                                                                                                 Basel, Centralplatz mit Biz-Turm

Städtebau in einer widersprüchlichen Zeit
Das grosse Spiel der Stadt
Die moderne Stadt war von rationalen Wahrheiten geprägt. Doch sie wurde nicht zu dem, was ihre Propheten den Menschen versprochen hatten. Deshalb braucht die nachmoderne Stadt nicht neue Dogmen, sondern eine Baukultur und eine Baupolitik, die auf ihre Komplexität und Widersprüchlichkeit eingehen.

von Carl Fingerhuth 

Laotse gilt nicht nur als Begründer des Taoismus. Er scheint auch Berater des Kaisers von China für die Betreuung der Transformation der Stadt gewesen zu sein. Im Vers 60 des ihm zugeschriebenen Buches «Tao Te King» schrieb er: «Man muss eine grosse Stadt betreuen, wie man kleine Fische brät.» Die Fische nicht zu heiss oder zu kalt werden lassen und sie im richtigen Moment sorgfältig auf die andere Seite drehen. Entscheidend ist die ständige Zuwendung und Aufmerksamkeit, verbunden mit den verantwortungsvollen Entscheidungen. Dieses «Betreuen» der Transformation der Stadt als politische Aufgabe ist zu einer der grossen Herausforderungen unserer Zeit geworden: Die einen ereifern sich über den Abbau einer überflüssig gewordenen Fahrspur am Bellevueplatz in Zürich, die anderen sehnen sich nach einer idyllischen Stadtmitte, die es nie gegeben hat; die einen lassen 180 Meter hohe Hochhäuser am Rande der Altstadt von Basel bauen, die anderen hätten gerne anstelle des Neubaus für die Erweiterung des Kunsthauses in Zürich die zum Abbruch vorgesehenen historischen Turnhallen unter Schutz gestellt.


Zürich, Kantonsschule mit Turnhalle (lks.), 19. Jhdt.

Kontinuität und Veränderung

Das sind im Umgang mit der Stadt vordergründige Phänomene unserer Zeit. Dahinter steht eine fundamentale Herausforderung. Die Stadt ist so etwas wie der Körper der Gesellschaft und zeigt unendlich viele Analogien zum menschlichen Körper: Beide brauchen Kontinuität. Bei zu viel Veränderung beginnen sie ihre Seele zu verlieren. Beide brauchen aber auch Veränderung, um Neues zu integrieren. Wenn der Körper oder die Stadt wachsen oder wenn sie mit neuen Bedürfnissen konfrontiert sind, brauchen sie neue Kleider. Diese müssen neuen Herausforderungen gerecht werden, müssen aber ebenso wärmen wie die alten Kleider.


Berlin, Galerie am Kupfergraben; Chipperfield

Man kann aber auch auf die Analogie von Stadt und Automobil verweisen: Bei einem Auto ohne Bremspedal wird die erste enge Kurve zur Selbstzerstörung, und ohne Gaspedal ist keine Mobilität möglich. In einer Stadt, die von einer übermässigen Veränderung betroffen wird, in der also «zu viel Gas» gegeben wird, werden die Menschen heimatlos und verlieren die «Orientierung». In einer Stadt, die ihren Körper nicht an wichtige soziale, ökonomische oder kulturelle Veränderungen anpassen kann, die von der angezogenen Handbremse blockiert ist, werden die Menschen arbeitslos oder verlassen diese. Kontinuität und Veränderung sind nicht dual, sondern polar. Sie sind keine Gegensätze, sondern sie bilden zusammen ein Regulierungssystem, das für das Leben des Systems, den Körper des Menschen oder der Stadt, existenziell wichtig ist.

Die Polarität von Kontinuität und Veränderung ist ein uraltes Spiel: Schon vor viertausend Jahren tauchte in der Symbolik des alten Ägypten im Bild des Pharaos die Polarität von Kontinuität und Veränderung auf. Er wird als Wagenführer dargestellt, der zwei Stäbe in den Händen hält: in der rechten Hand eine Peitsche, um die Pferde anzutreiben, und in der linken Hand einen Stab mit einem Haken am Ende, um die Pferde zurückzuhalten.



Viel später, nämlich im Mittelalter, war im Schweizer Städtebau diese Polarität ein zentrales soziokulturelles Thema. Davon wurde in der Sage vom «Stadttier» von Willisau berichtet: «Das Stadttier zeigt sich als grosser schwarzer Hund. Es ist erkennbar an seinem abscheulichen Geschrei, das mit keinem anderen Ton zu vergleichen ist und durch Mark und Bein geht, wenn es in der Stille der Nacht ertönt. Das Stadttier wandelt seit vielen hundert Jahren. Es ist der Geist eines alten Stadtbaumeisters, der sich nach dem Brand der Stadt verfehlte, indem er, anstatt alle Häuser gleich zu bauen, aus Eigennutz sein Haus, die Kupferschmiede an der Spitalgasse, schöner und grösser aufführte als andere Häuser.»

Von der Polarität zur Dualität

Die Moderne machte aus der Polarität von Kontinuität und Veränderung eine Dualität. Veränderung wurde zur dominanten Kraft, die Kontinuität zu einem störenden Gegensatz, dem Dagegengesetzten. Damit ist es das zu Bekämpfende geworden, entsprechend dem Teufel in der christlichen Religion. Die Geschichte des Städtebaus seit der Renaissance ist der Verherrlichung der Veränderung gewidmet. René Descartes, der Vater der modernen Philosophie, schrieb 1637 in seinem Buch «von der Methode des richtigen Vernunftgebrauches» von den Defiziten der alten Stadt: «So sind jene alten Städte, die – anfänglich nur Burgflecken – erst im Laufe der Zeit zu Grossstädten geworden sind, verglichen mit jenen regelmässigen Plätzen, die ein Ingenieur nach freiem Entwurf auf einer Ebene absteckt, für gewöhnlich ganz unproportioniert.»


Stadttier von Willisau

Le Corbusier stellte im cartesianischen Geist 1925 seinen «Plan Voisin» vor. Dieser sah den Bau eines neuen Stadtzentrums für Paris vor, das durch den Abbruch wesentlicher Teile der über Jahrhunderte gewachsenen Stadt möglich werden sollte. In der Folge entstanden ähnliche Pläne: 1933 von Karl Moser für die Altstadt von Zürich, 1935 von Maurice Braillard für Genf und 1946 von Hans Schmidt für Basel. In ihrem 1957 erschienenen Buch «Die gegliederte und aufgelockerte Stadt» ächteten drei berühmte Wiener Architekten die gewachsene Stadt als das Ergebnis von «Fehlbildungen und Entartungserscheinungen», denen nur mit einer «bis an die Wurzel des Übels gehenden Neuordnung» beizukommen sei.

Reintegration der Kontinuität

Im Jahre 1979 war ich zum Kantonsbaumeister von Basel gewählt worden, mitten zwischen die Fronten eines «Kriegs». In der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 14. Oktober 2014 lese ich: «Krieg wird in Anlehnung an Clausewitz . . . als gewaltsamer Zusammenprall von Willenskundgebungen betrachtet.» Auf der einen Seite träumten die «Modernen», vertreten vor allem durch die Architekten und Ingenieure, von einer neuen funktionalen, hygienischen und übersichtlichen Stadt. Dazu hatten sie 1960 einen «Masterplan» entworfen, der ein neues Basel verlangte: mit einem äusseren Autobahnring und einem inneren Cityring, Grossparkings in der Innenstadt – eines davon unter dem Münster – und dem Abbruch wesentlicher Teile der mittelalterlichen Altstadt. Das Parlament hatte diesen Plan als Richtplan für die Zukunft von Basel beschlossen. Der Bau eines ersten Abschnitts am Centralbahnplatz war eben fertig geworden. Den «Modernen» entgegen stand eine Bürgerbewegung, die von der Moderne ernüchtert und frustriert war und weitere Abbrüche und Strassenbauten vehement bekämpfte, Fackelzüge zur Erhaltung der Altstadt organisierte und mit Einsprachen und Beschwerden für ihre Anliegen kämpfte.


Le Corbusier, Plan Voisin pour Paris, 1925

Meine Aufgabe, die essenziell war für jene Zeit am Ende der architektonischen Moderne, bestand darin, aus einem Kriegszustand zu einer Situation zurückzukommen, in der Kontinuität und Veränderung als sich ergänzende Pole einer politisch konsolidierten städtischen Baukultur verstanden werden: Zerstörerische Baulinien wurden aufgehoben, bei baufälligen Altbauten wurde zuerst einmal geprüft, ob sie sanierungsfähig seien, mit Wettbewerben für die Bebauung von Baulücken suchten wir nach respektvoller Kreativität, und das Streben nach Qualität des städtischen Aussenraums wurde zu einer zentralen Aufgabe.

Wo stehen wir heute?

In jenen Jahren erschien das wunderbare Buch des amerikanischen Philosophen Alan Watts «Der Lauf des Wassers»; Alan Watts erzählte in diesem westlichen Lehrbuch des Taoismus, wie wir das, was wir verloren haben, wieder integrieren können: «Die Moderne betrachtet das Universum als etwas vom Selbst Getrenntes und Unterschiedliches – das heisst als ein System äusserer Objekte. [...] Taoisten betrachten die Welt als identisch oder untrennbar von ihrem Selbst. [...] Das heisst also, dass Technologie nur in den Händen von Menschen destruktiv wird, die nicht erkennen, dass sie demselben Prozess angehören wie das Universum. Unsere Überbetonung der bewussten Aufmerksamkeit und des linearen Denkens hat uns dazu geführt, die Grundsätze und Rhythmen dieses Prozesses, dessen wichtigster die Polarität ist, zu vernachlässigen oder zu ignorieren.»



Die menschliche Gesellschaft ist von einer gewaltsamen und unwiderruflichen Globalisierung ihres Lebensumfeldes geprägt. Um in dieser neuen Weite nicht die Orientierung zu verlieren, muss, als natürliche Reaktion eines polaren Systems, das Individuelle, das Persönliche, die eigene Identität, das Zuhause oder die Heimat gestärkt werden.

Die radikale Präsenz eines von «Komplexität und Widersprüchlichkeit» geprägten Weltbildes verlangt neue Strategien bei der Betreuung der Transformation der Stadt. Die moderne Stadt wurde von ihren Planern und der Politik als ein Puzzlespiel verstanden. Heute hingegen wird die Betreuung der Transformation der Stadt als ein Dominospiel verstanden. Es gibt Spielregeln, aber kein finales Bild, und es gibt Mitspieler, die kommen und gehen, denn das Spiel ist nie zu Ende. Die Entscheidungen sind inhärent von Risiko und Überraschung geprägt. Die Stadt jenseits der Moderne spricht die Domino-Sprache der neuen Physik. Diese redet von nichtlinearen Systemen, bei denen das Ganze mehr ist als die Summe der Teile und nicht auf einfache, zusammenwirkende Untereinheiten reduziert werden kann, ein System voll von Polaritäten. Diese Situation führt zu grossen und schwierigen Konflikten, weil mehrere der «Spieler» für sich ein duales und autonomes Recht auf Veränderung beanspruchen und sich den Prinzipien der Polarität entziehen.


Frankfurt a. M., restaurierter Römerberg

Die Bauökonomie hat sich freigespielt von sozialen Bindungen. Sie orientiert sich im Wesentlichen an ihren eigenen Spielregeln und Ambitionen. Das sich nur am Markt Orientierende endet aber oft im Banalen. Das Öffentliche, im Speziellen der öffentliche Raum, interessiert nicht, sofern dieses nicht für die Funktionalität des Gebauten notwendig ist, wie ein Blick auf den oberen Zürichsee im Raum Freienbach, Pfäffikon und Lachen zeigt.

Partner der Profitorientierung ist das Alleinstellungsmerkmal. Wenn es mir gelingt, anders zu sein, lauter, autonomer oder grösser als die anderen, dann wird man auf mich aufmerksam. Alles andere wird dann klein und unbedeutend.

Es ist eine hochproblematische Verbindung entstanden zwischen einer missverstandenen Interpretation der Bedeutung der Verdichtung durch die Ökologie und den Interessen der Grundeigentümer beziehungsweise der Bauwirtschaft. Das Anliegen der Grundeigentümer ist einfach: Je höher die Dichte ist, umso höher ist der Landwert. Aus ökologischer Sicht ist die Situation komplexer. Aber auch hier wirkt ein polares System. Es gibt ein Zuwenig und ein Zuviel. Dies hängt vom Ort ab, von der Erreichbarkeit des öffentlichen Verkehrs oder der Nähe von Arbeitsplätzen. Es hängt aber auch von der Identität des Ortes und den sozialen Bedürfnissen der Bewohner ab, im Speziellen von der Zuordnung von Freiraum. Ich fürchte, dass derzeit die neuen Wohnquartiere mit einer viel zu hohen Dichte realisiert werden, wie beispielsweise ein Augenschein in Zürich Affoltern oder im Limmattal zwischen Zürich und Baden zeigt.

Zürich Affoltern

Zentrale politische Aufgabe

Die neue Komplexität und Widersprüchlichkeit hat die Architekten in eine neue Freiheit geführt. Dies ist eine Chance, das Schöne und Angemessene zu finden. Es ist aber auch eine Verführung. Es scheint keine kulturellen Einschränkungen mehr zu geben – wie der Philosoph Paul Feyerabend plakativ gesagt hat: «Anything goes» –, und der Architekt meint, sich auf eine in einer vergangenen Moderne etablierte kulturelle Autonomie berufen zu dürfen. Er darf Monster bauen und die Identität des Ortes ignorieren – in Zürich West und Basel, in Rotterdam und Mailand, in Belgrad oder in Sevilla.


Sevilla, Metropol Parasol von Jürgen Mayer H.

Die sorgfältige Betreuung der Transformation der Stadt als des Körpers der Gesellschaft mit einer an unserer neuen Zeit orientierten Baukultur ist eine der zentralen politischen Aufgaben unserer Zeit. Um mit dieser neuen Situation umzugehen, muss man eine Stadt so betreuen, wie man kleine Fische brät: mit Achtsamkeit, Verantwortungsbewusstsein, Kreativität und einem Bewusstsein für die Polarität aller Kräfte.

Prof. Carl Fingerhuth arbeitet und unterrichtet als Architekt und Stadtplaner. Von 1979 bis 1992 war er Kantonsbaumeister von Basel.



Nota. - Ästhetische Probleme stellen sich nicht doktrinär, sondern immer konkret. Städtebauliche Problem stellen sich nicht doktrinär, sondern immer konkret. Was ließe sich über Architektur mehr sagen?
JE

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