Samstag, 10. Januar 2015

Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts.

Klassischer Städtebau modern interpretiert – das nach dem Zweiten Weltkrieg von Auguste Perret vorbildlich wiederaufgebaute Le Havre. aus nzz.ch, 10.1.2015, 05:30 Uhr               Das nach dem Zweiten Weltkrieg von Auguste Perret vorbildlich wiederaufgebaute Le Havre.

Urbanität und Dichte im Städtebau
«Städte sollen wieder Städte werden»

von Judith Leister 

Bekanntlich brach die moderne Architektur mit den traditionellen Stadtstrukturen und stellte radikale Konzepte der Stadtauflösung in den Mittelpunkt. Statt «kommunizierender» Gebäude, Strassen und Plätze dominierten nun Objekte ohne Bezug zur Umgebung. Wohn- und Geschäftsfunktion wurden entmischt; die anspruchsvolle Fassadengestaltung wich der schmucklos-reduzierten Aussenhülle. Am verheerendsten aber war die Tatsache, dass die gesamte Stadtplanung dem Diktat des Autoverkehrs untergeordnet wurde. In seinem reich bebilderten Band «Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts» setzt der Architekturtheoretiker Wolfgang Sonne zur Gegenoffensive gegen städtebauliche Brachiallösungen, aber auch gegen suburbane Flächenstädte an. Gemäss seiner These hat es parallel zu den Avantgardisten in Europa und den USA stets auch Vertreter einer «urbanen und dichten» Bauweise gegeben, die an die Tradition der funktional durchmischten, fussläufigen und für die Bürger partizipativen Stadt anknüpfen.


Garden City by Ebenezer Howard (aus Dokumentarfilm Urbanized)

Das Buch ist nach städtebaulichen Aufgaben gegliedert und stellt zum grössten Teil verwirklichte Projekte in chronologischer Reihenfolge vor. Dabei skizziert Sonne auch den zur jeweiligen Zeit aktuellen Grossstadtdiskurs bis hin zur Stadtsoziologie und definiert Urbanität als Prozess einer «zunehmenden Ausdifferenzierung» des «positiv konnotierten Städtischen». Dazu deutet er Positionen von «Desurbanisten» wie Ebenezer Howards «Garden City» (1898), Bruno Tauts «Auflösung der Städte» (1920), Frank Lloyd Wrights «Broadacre City» (1935) oder Hans Scharouns «Stadtlandschaft» (1946) nur an; ausführlicher kommen die «Urbanisten» zu Wort. Eine etwas exzentrische, aber für Sonnes Stossrichtung charakteristische Position vertrat der britische Architekt und Stadtplaner Arthur Trystan Edwards in «Good and Bad Manners in Architecture» (1924). Seiner Ansicht nach sollten Gebäude in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen, das nicht durch «zu lautes Schreien» oder «unpassende Zwischenrufe» einzelner Häuser gestört werden dürfe.


Bruno Taut, Hufeisensiedlung

Einige Jahrzehnte später forderte der damals einflussreiche Soziologe Hans Paul Bahrdt, dass «die Städte wieder Städte werden sollen». Die moderne Stadt müsse durch «die Dialektik von Privatheit und Öffentlichkeit» stärker auf die Bedürfnisse des Städters eingehen. Diese Dialektik sieht Sonne fast idealtypisch im reformierten Wohnblock der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts verwirklicht – der nach aussen offenen Blockrandbebauung, die innen eine begrünte Ruhezone bietet. Parallel zu den um 1900 neu definierten Konzepten des Wohnens trat durch Camillo Sittes «Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen» (1889) der städtische Platz wieder in den Vordergrund. Lobend erwähnt Sonne die von Marcello Piacentini, der auch Mussolinis Leibarchitekt war, umgestalteten Plätze in Bergamo, Brescia und Turin mit ihrer Mischung aus alten und neuen Elementen, lokal angepasstem Baustil und durchgängiger Definition des Raums.


Marcello Piacentini, Genua, Piazza della Vittoria

Eine Besonderheit des britischen und amerikanischen Raums war die Civic-Art-Bewegung, die im Städtebau eine Gemeinschaftsaufgabe der Bürger mit erzieherischer Wirkung erblickte. In diesem Geist entstanden gerade in den USA grosse städtebauliche Projekte mit integrierten Wolkenkratzern wie das Rockefeller Center in New York, das in Manhattan einen grosszügigen Stadtraum für Fussgänger öffnete und mit seiner spezifischen Funktionsmischung auch über 75 Jahre nach der Eröffnung ein Publikumsmagnet ist. Dass die von Sonne behauptete Dichotomie von Avantgarde und Traditionalismus nicht ganz aufgeht, zeigt spätestens das Beispiel des nie realisierten «Palasts der Sowjets» in Moskau und der umgebenden Architektur. Die sieben Hochhäuser, die unter Stalin rings um den geplanten Palast der Sowjets ab 1947 entstanden und an die vorhandene Ring- und Radialstruktur der Stadt anknüpften, zählt Sonne zur urbanistischen Fraktion. Dabei blendet er aus, dass für den Palast der Sowjets die Christ-Erlöser-Kathedrale gesprengt wurde – was der Tabula-rasa-Logik der Avantgarden entspricht.


Boris Ioafan, Moskau, Palast der Sowjets, Entwurf

In den letzten Kapiteln behandelt Sonne den Wiederaufbau nach dem Krieg und die «Stadtreparatur» ab den 1960er Jahren. Dabei gilt ihm die weitgehend konservative Wiederherstellung Münchens als besonders gelungenes Beispiel für den Wiederaufbau im Geiste der Bautradition – im Gegensatz zur Traditionsverweigerung grosser Teile der deutschen Nachkriegsarchitekten. Gegen die Zerstörung gewachsener städtischer Strukturen in den 1960er Jahren formierte sich mit Jane Jacobs' «The Life and Death of Great American Cities» (1961),Wolf Jobst Siedlers Fotoessay «Die gemordete Stadt» (1964) und Alexander Mitscherlichs «Die Unwirtlichkeit unserer Städte» (1965) Widerstand. Leider unkritisch behandelt Sonne Rekonstruktionen der jüngsten Zeit wie den Dresdner Neumarkt oder das Dom-Römer-Projekt in Frankfurt. Sosehr man Wolfgang Sonnes Ansatz im Einzelnen folgen mag, so wenig gehen seine tendenziell ästhetisch und soziologisch getriebenen Gedanken leider auf die ökonomischen Bedingungen heutigen Bauens ein.

Wolfgang Sonne: Urbanität und Dichte im Städtebau des 20. Jahrhunderts. DOM Publishers, Berlin 2014. 360 S., 129 Fr.



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