Donnerstag, 1. Januar 2015

Wie das Ästhetische entbunden wurde.

Cézanne, Lac d'Annecy

Was ist das Ästhetische im Unterschied zum Logischen, Rationellen, Ökonomischen, Technischen usw.? 

Die Frage setzt eine gewisse Idee, dass "das Ästhetische" im Unterschied sei [was mit diesem Wort also wovon unterschieden wird], natürlich schon voraus. Wo kommt die her? Aus der Kenntnis der Kunst. Kommt sogleich die Frage: Was ist Kunst? - Die industria, die "ästhetische Gegenstände" (schöne Dinge) produziert.

neolithisch

Offenbar zirkulär eingrenzen (den Zirkel immer enger ziehen): Hat es Kunst immer gegeben? 

Also: Kunst in einem engeren Sinn entsteht erst mit der Renaissance. Wieso? Bis dahin entstanden "ästhetische Gegenstände" gewissermaßen beiläufig, akzidentiell, als Attribut eines anderweitig bestimmten Gegenstands. Die ästhetische Qualität (Schönheit, Erhabenheit) als Schmuck, Verzierung (vgl. Gottfried Semper über 'Kosmetik') und Lobpreisung der (weltlichen wie geistlichen) Macht: das Ästhetische lediglich als Auszeichnung des Gegenstands. Seit der Renaissance ist der Gegenstand dann nur noch Träger, Transporteur, Vorwand der ästhetischen Qualität selber.

Melozzo da Forlì, Laute spielender Engel, 1480

Deshalb muss die ästhetische Qualität seither nicht mehr nur positiv bestimmt sein, als Schönheit oder Erhabenheit, sondern kann quasi disparat werden: Manierismus, Barock; hässlich, komisch, grotesk als Selbstzweck, nicht mehr als "Warnung" (wie bei Bosch, Brueghel).

Cornelis Gijsbrechts,Trompe l'oeil

Letzte Konsequenz: Der Gegenstand wird vorübergehend zugunsten des Ästhetischen ganz aufgegeben; Malevitch, Kandinsky, Konstruktivisten, Mondrian... 

Clivage reproduziert sich zyklisch jeweils auf höherem Niveau. Z. B. die Zeitgenossen Corot und Turner. (Von T. heißt es, er "gibt mit der Auflösung der Kontur den Gegenstand selber auf". Aber das ist schief. Er "gibt" den Gegenstand nicht "auf", sondern er "achtet" am Gegenstand nur noch "auf" dessen ästhetische Qualität. Man erkennt es am Vergleich mit Corot, der dasselbe tut mit anderem Resultat: Flächen, Valeurs...)

Turner, Seestück mit Figuren im Vordergrund, nach 1844
Corot, (Campagna romana)

Vorher gab es in der englischen Gartenkunst die Revolution von Capability Brown. Nicht mehr: die Landschaft nach ästhetischem Vor-Bild modellieren (wie noch bei Lenné!), sondern aus der gegebenen Landschaft ihre ästhetischen "Möglichkeiten" (capabilities) heraus holen.

aus e. Notizbuch, 2. 9. 03


Capability Brown, Sheffield Gardens


Das war also der Anfang meiner Beschäftigung mit der Rolle der Landschaftsmalerei bei der Entbindung des Ästhetischen. Ich muss nicht einmal groß was graderücken; höchstens, dass bei Corot weniger der Gegenstand als vielmehr das Motiv hinter das Ästhetische zurücktritt, was bei Turner wiederum gar nicht der Fall ist.

Zu Lancelot Brown ist noch zu sagen, dass er eine Revolution gar nicht im Sinn hatte. Er bekannte sich vorbehaltlos zu seinem Lehrer William Kent und seinem Programm, "mit Bäumen und Sträuchern" dasselbe zu tun wie "der Maler mit Pinsel und Leinwand". Dass er eine neue Ästhetik in die englischen Parks einführte, lag daran, dass er mit Aufträgen so überladen war - auf Grundstücken, die immer weitläufiger wurden -, dass ihm seine Ökonomie der Mittel ganz außerästhetisch durch die Zeitökonomie aufgeherrscht wurde. Dass das so glatt verlief, dass er es nicht einmal bemerkte, kann nur daran gelegen haben, dass sein eigener Geschmack schon längst in diese Richtung vorgeeilt war.
JE.

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