Mittwoch, 30. Oktober 2013

Architekturfotografie, I.

aus NZZ, 26. 10. 2013                                                                         aus Chaubin, Cosmic Communist Construction Photography

Dialog der Bauwerke, Einsamkeit der Nutzer
Die zeitgenössische Architekturfotografie kennt ganz unterschiedliche Positionen

Architekturfotografie begnügt sich nicht mit der präzis erfassten Wiedergabe der Anatomie eines Gebäudes. Die Standpunkte reichen vom praxisorientierten Zugang über Freiräume der Imagination bis hin zum Augenmerk auf Rückbau und Absurdität entfesselter Bautätigkeit. 

von Andrea Gnam 

«Offenbar schlug ein kühner Architekt vor, als Brest nach dem Krieg in Ruinen lag, wo man schon alles neu bauen müsse, da sollten doch alle Einwohner das Meer sehen können: Man könne doch die Stadt im Halbkreis wieder aufbauen, nach hinten immer höhere Häuser, die Stadt bis an den Rand der Strände gezogen.» So setzt Tanguy Viels 2009 erschienener Roman «Paris-Brest» ein. Statt der Freigabe des Blicks und der Aufkündigung sozial differenzierender Höhenunterschiede sei es zu einem Wiederaufbau gekommen, der die Hafenstadt «kubisch und abgeplattet» erscheinen lasse «wie eine aztekische Pyramide abgeschnitten mit einem horizontalen Sensenhieb». Solch literarische Architekturkritik, die mit einprägsamen visuellen Bildern arbeitet, rüttelt an dem, was Architektur und Architekturfotografie im gelungenen Fall materiell und immateriell in Aussicht stellen: Freude am Ausblick, eine soziale Perspektive, die Reminiszenz an tradierte geometrische Formen, die aber auch wie hier zum Nachteil für die städtische Situation gegen den Strich gebürstet werden können. 
 
Brest 1944

Stimmungen und Zwischenräume

Sofern Architekturfotografie heute nicht als klassische Auftragsarbeit lediglich Ansichten zur dokumentarisch-werbenden Identifizierung bietet oder Bauten wie Stars in Szene setzt (vor wolkenlosem Himmel in leichter Untersicht), ist sie offen für den Raum, den Architektur formt und umschliesst. Georg Aerni unterscheidet in «Bildbau - Schweizer Architektur im Fokus der Fotografie» (Christoph-Merian-Verlag, Basel 2013) zwischen Aufnahmen zum professionellen Gebrauch, bei denen die Präsentation des Objekts im Vordergrund steht, und einer weiterreichenden Beschäftigung mit dem Gegenstand: «Bei den freien Arbeiten fokussiere ich eher Zwischenräume, und ich versuche, Bilder zu komponieren, auf denen alle Bildbereiche mehr oder weniger gleichbedeutend sind.» Stimmungen und «imaginäre Verbindungen» zu schaffen, «die nah an der Wahrnehmung von Raum sind», sieht Hélène Binet als Vorteil der wohlkomponierten Bildfolge im Medium Fotobuch. Das sind Überlegungen, die davon ausgehen, Gebautes nicht nur als Baukörper visuell zu erfassen, sondern auch als körperliche Erfahrung sichtbar werden zu lassen. Solcherart Architekturerlebnis ist in seinen feinen Abschattierungen von Licht, Tageszeit, Wetter und der Umgebungssituation abhängig. Was in der analogen Fotografie als eine Art Nabelschnur des Bildes zur Situation vor der Kamera mit dem Begriff «Realitätseffekt» bezeichnet wird, das ist hier die Beziehung zu einer vorgefundenen Situation: Anlass für die Aufnahme ist das Gebäude, wie es in seiner Umgebung steht, oder das Haus, das vom Fotografen mit der Kamera in der Hand durchschritten wird.
 
Georg Aerni, in Bildbau - Schweizer Architektur im Fokus der Fotografie

Zeigt der Fotograf hier Ausblicke, die rein ästhetisch geschaffen und ein Produkt seiner Aufmerksamkeit und seines Könnens sind, abhängig von der Wahl der technischen Mittel? Hat das so entstandene Bild etwas mit der alltäglichen Erfahrung von Architektur zu tun? Oder ist es grundsätzlich das Resultat einer Ausnahmesituation, welches auf die Schönheit, die Gefahren, die Möglichkeiten von Architektur aufmerksam macht oder diese sogar weitsichtig antizipiert?

Thomas Florschuetz, der sich nicht als «Architekturfotograf» verstanden wissen will, gelingt es durch das präzise
Setzen von Ausschnitten und Durchblicken, in vertikal, diagonal und horizontal angelegten Blickführungen, im Einfangen feinster Grauabstufungen der Wandoberfläche und farblicher Akzente, das Versprechen vor Augen zu führen, das die Architektur der Moderne auch heute noch für uns bereithält (in: «Assembly», Hatje Cantz, Ostfildern 2013). Es liegt weniger im kommunikativen Austausch als in ruhiger Konzentration und funktionaler Reduktion, einer Askese, die bestimmter mentaler Voraussetzungen - und wohl des Alleinseins - bedarf. Auf solchen Aufnahmen, die im visuellen Wechselspiel zwischen Bergen und Öffnen den Fokus auf die Qualität gestalteter Zwischenräume richten, kommen körperliche Momente zum Vorschein, wie sie sich einem im ungehinderten Umhergehen erschliessen. In der Alltagswahrnehmung bilden diese Erfahrungen lediglich einen Grundstrom der Befindlichkeit, auf dem Bild haben wir es mit einem Konzentrat zu tun. «Eigentlich ist eine gute Architekturfotografie eine Fotografie, die viele Fragen stellt. Und wenn eine Architektur gut ist, dann stellt auch sie viele Fragen», erklärt Armin Linke (in: «Concrete. Fotografie und Architektur», Scheidegger & Spiess, Zürich 2013) das Spannungsverhältnis zwischen Architektur und Fotografie.
 
aus Armin Linke, Concrete. Fotografie und Architektur

Wie vertraut soll und darf ein Fotograf mit den Räumen sein, über die er arbeitet? Thomas Ruff kokettiert als Fotograf sogar mit seiner körperlichen Abwesenheit und delegiert Aufnahmen an andere Fotografen, um sich auf die Position der Konzeption zurückzuziehen, mit der Begründung, es wäre arbeitstechnisch unsinnig gewesen, für einen Auftrag 500 Kilometer zurückzulegen: «Besser, das erledigte jemand vor Ort, der nur fünf Minuten fahren musste» (in: «Bildbau», 2013). Ganz anders Christian von Steffelin, der, um im Inneren des Berliner «Palastes der Republik» zu fotografieren, dessen Rückbau kurz bevorstand, sich auch Strategien der Mimikry bedienen musste, um überhaupt eingelassen zu werden (Hatje Cantz, Ostfildern 2011). Mit wie viel Umsicht bewegt man sich fast als Letzter in solcherart kostbar gewordenen Räumen, welches Gewicht erlangen hier die Details, die später als Statthalter für das Ganze stehen? Steffelin fand eine schöne Lösung: Er kontrastierte Raumaufnahmen mit Grossaufnahmen der im Innenbereich zum Einsatz gekommenen Materialien und Fotos aus der DDR-Zeit.
 
Christian von Steffelin, Loch / Palast der Republik, 2006,

Beklemmende Kulissen

Nicht immer auf den ersten Blick zu durchschauende Sonderfälle bilden Aufnahmen, die den - in der älteren Malerei so beliebten - Architektur-Capriccios verwandt sind. Düster endzeitliche, aus vielen Aufnahmen digital erstellte Bild-Kompilationen finden sich bei Beate Gütschow, als heiter-vertrackt erweist sich Gerhard Vormwalds Werkkomplex «Concrete Illusions» mit Konstruktionen, die teilweise auch einem eigenmächtigen Bauherrenwillen auf dem Land entsprungen sein könnten. Aus modernen Architekturelementen und Gerümpel sind die futuristisch anmutenden «Favelas» von Dionisio González zusammengesetzt. Bei Nachbauten von Architektur handelt es sich ebenfalls fast schon um ein eigenes Genre. Aus Legosteinen erbaute und aus der Vogelperspektive aufgenommene, schwindelerregende Ansichten finden sich bei Andreas Zimmermann, die real beklemmenden Kulissen des für die französische Armee zu Übungszwecken aufgebauten Phantomdorfs Jeoffrécourt rückt Guillaume Greff (in: «Dead cities», Kaiserin Editions, Paris 2013) ins Blickfeld.
 
Guillaume Greff, Jeoffrécourt in Dead cities

Absurdität und Traurigkeit strahlen Bauwerke aus, die ihren politischen Kontext verloren haben und alleine stehen geblieben sind. Ihres Anspruchs beraubt, sind das verbrauchte Architekturen, die eines unvoreingenommenen Blicks und eines Fotografen bedürfen, der ihren übergreifenden, formalen Zusammenhang ebenso aufspürt wie das, was trotz vielen enttäuschten Erwartungen bleibt. So geraten Bushaltestellen in Armenien (Ursula Schulz-Dornburg) und besonders individuell gestaltete Anlagen in der ehemaligen UdSSR (Christopher Herwig) in den Blick, wie jüngst eine Ausstellung zur Sowjetmoderne im Architekturzentrum Wien zeigte. Frédéric Chaubin zeigt im Bildband «Cosmic Communist Constructions» (Taschen-Verlag, Köln 2011) Gebäude aus der Sowjetzeit in ihrer überbordenden und doch bürokratisch genormten, kühn absurden Phantastik.
 
 aus Frédéric Chaubin, Cosmic Communist Constructions

Hier wird deutlich, was heute auch skulpturaler Stararchitektur in ihrer globalen Standortlosigkeit vorgeworfen wird: Die Bauwerke der Architekten halten weltweit untereinander Zwiesprache, aber nicht mit ihrer unmittelbaren Umgebung. Es sei denn, ein Fotograf erkennt auch hier wieder eine Struktur, die manchmal allerdings auch ein Effekt der Übersetzung in die Zweidimensionalität sein kann: HG Esch schafft in «City and Structure» (Hatje Cantz, Ostfildern 2009) mit einem europäisch-traditionellen Blick von oben eine in Form- und Farbkorrespondenzen überwältigende Geometrie der grossen, von Sonnenlicht oder nächtlicher Beleuchtung durchfluteten Städte. Einem historischen Gestus verpflichtet kommt das Prinzip der Reihung daher, wie es sich etwa im Bildband «Manhattan New York» (Schirmer/Mosel-Verlag, München 2007) präsentiert, in dem Gerrit Engel bekannte und weniger bekannte Gebäude Manhattans nach ihrem Entstehungsjahr porträtiert.
 
aus HG Esch, City and Structure 

Eine besondere Form der historischen Aufmerksamkeit gegenüber Architektur stellt sich mit der Frage nach ihrem Gebrauch. Denn in der Regel werden Gebäude in ihrer Jugendblüte fotografiert. Wie aber bewähren sie sich auf Dauer? Sollte man soziologisch auch nach Nutzungsmöglichkeiten unterscheiden - schliesslich werden die Räume eines Museums, eines öffentlichen Gebäudes oder einer Villa anders erfasst, je nachdem, ob man darin zu Besuch ist oder dort arbeiten muss? Ila Bêka & Louise Lemoine gehen diesen Fragen nach, sie prüfen - mit ironischem Abstand in ihrem Film- und Fotoprojekt «Living Architectures» Räume von Stararchitekten aus der Sicht von Putzpersonal («Koolhaas Houselife», 2013) oder untersuchen sie auf ihre Brauchbarkeit zum Essen und Feiern («Pomerol, Herzog & de Meuron», 2013).
 
aus Ila Bêka & Louise Lemoine, Living Architectures

Für die Idee einer «Amateur-Architektur» macht sich Wang Shu als Architekt stark. Diese huldigt keiner kühnen Idee, ist keiner dauerhaft festgelegten Form verpflichtet, sondern lässt möglichst viele Nutzungsmöglichkeiten offen, die sich erst in der Realisierung durch die Bewohner ergeben. Eine solch pragmatische Sichtweise, die sich zum Temporären hin öffnet, mag ihre Anregungen oder ihre Notwendigkeit von der Strasse holen: von den einfachsten Behausungen, die gerade in den Megastädten Asiens und Afrikas Seite an Seite mit gigantischer Repräsentationsarchitektur einhergehen oder andernorts von zeitweiligen Protestcamps auf öffentlichen Plätzen. Für eine offene, flexible Konzeption, die je nach Umständen sich wechselnder, auch kontrastierender Mittel von Entwurf, Material und Darstellung bedient, votiert Eike Becker mit seinem Konzept der «Superferenz» (Hatje Cantz, Ostfildern 2012). Interessanterweise arbeiten er und sein Büro mit kühnen Tuschzeichnungen, die an Kalligrafie erinnern, um ihnen recht biedere Architekturfotografie zur Seite zu stellen.
 
aus Eike Becker, Superferenz

Statement und Bekenntnis

Welche (materiellen) Bilder indes Architekten als für ihre Arbeit bedeutend erachten, ist Gegenstand von Valerio Olgiatis Bilder-Buch «The Images of Architects» (Quart-Verlag, Luzern 2013). Er hat 44 bekannte Architektenkollegen (darunter nur fünf Frauen)* gebeten, solche Bilder zusammenzustellen, wie er es selbst bereits seit Jahren tut. Neben Zeichnungen sind es eine Reihe von Fotografien: Man sieht Ansichten von Eisenkonstruktionen, Rückenfiguren der Malerei, die in die Ferne blicken (Hans Kollhoff), oder Menschenansammlungen im Wechsel mit Bildern vom Wald (Sou Fujimoto). Einiges mag mehr Statement als Bekenntnis sein, anderes reflektiert wie die Bildauswahl von Adam Caruso und Peter St John, die das Spannungsfeld auslotet, innerhalb dessen sich Architektur zwischen Repräsentation, Nutzung und sakral-meditativem Freiraum positioniert: Ein Fahrradfahrer dreht eine Kurve, im Hintergrund erhebt sich die Fassade einer Bank im brutalistischen Stil; der Kreuzgang einer Abtei; zum Trocknen aufgehängte Wäsche vor einer Siedlung; der Nike-Tempel in Athen neben einem Zementwerk als liegendem, dreiseitigem Prisma auf dem flachen Land in den USA - fremd und ein wenig seltsam anmutend wie Tanguy Viels ins Weichbild von Brest projizierte Pyramide aus dem Aztekenreich.

PD Dr. Andrea Gnam ist Privatdozentin für deutsche Literatur an der HU Berlin, lehrt auch an der Universität Wien und ist Mitglied der Deutschen Fotografischen Akademie. Sie ist die Autorin von zahlreichen wissenschaftlichen und journalistischen Publikationen zu Kunst, Fotografie, Medien und Literatur (Fotoblog http://fotobuch.gnam.info).

aus Chaubin, Cosmic Communist Constructions  

*) Doch wieviele Rothaarige und wieviele Blauäugige? Das interessiert mich viel mehr.
JE 

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