Wien – Berlin: Das Nahe, so fern Was trennte die beiden Kunstmetropolen in der Klassischen Moderne, wie tauschten sie sich aus? Eine kluge Ausstellung spürt Antworten auf – erst in Berlin, dann im Belvedere.
Jetzt wissen also auch die Berliner, was ein „Pülcher“ ist. Voller Misstrauen blickt uns ein armselig gewandeter Halbstarker an. Frierend steckt er die Hände in seine fleckige Hose. Fast wie eine Karikatur wirkt das zugleich dumpfe und gerissene Gesicht. Dahinter Plakate an der Mauer, Schriften und Farben collagieren sich zum Großstadt-Sammelsurium. Eine naturalistische Genreszene aus der Vorstadt, die zaghaft intoniert, was später kommt: Neue Sachlichkeit, Dada, die Stadt als Dschungel, Spott und bittere Anklage. Was ist das nun, Wien oder Berlin? Der Bildtitel klärt auf: Ein „Pülcher“ ist zu sehen, ein Hallodri und Strizzi, gemalt schon 1888 von Josef Engelhart, einem fast vergessenen Mitbegründer der Wiener Sezession.
Josef Engelhart, Eine Wiener Straßenfigur (Der Pülcher), 1888,
Wien oder Berlin? Diese Frage stellt man sich oft beim Gang durch eine große Ausstellung, die erstmals die beiden deutschsprachigen Kunstmetropolen in einen Kontext stellt – wenn auch fokussiert auf die Zeit ab der Jahrhundertwende bis Anfang der 1930er-Jahre. Die Berlinische Galerie, ein wichtiges Museum moderner und zeitgenössischer Kunst in Kreuzberg, und die Österreichische Galerie im Belvedere haben sie zusammen erstellt. Von heute bis Ende Jänner ist die Schau in Berlin zu sehen, von Mitte Februar bis Mitte Juni in Wien.
Die Deutschen werden sie stürmen, um ohne Flugticket Klimt und Schiele zu genießen – und Kokoschka, den sie hartnäckig falsch auf dem zweiten „o“ betonen. Die Österreicher können sich auf wichtige Werke von Ernst Ludwig Kirchner oder George Grosz freuen. Sie dürfen erstmals die anarchistische Antikunst von Dada bestaunen, die in den 1920er-Jahren mit Hauptquartier Berlin den Kontinent in Atem hielt und nur am entkräfteten Wien spurlos vorüberging (erst Jahrzehnte später, im Wiener Aktionismus, wagten wir, so frech zu sein).
Hannah Höch, Dada Rundschau 1919
Aber die Ausstellung will weit mehr, als Disparates nebeneinanderstellen. Der Parcours durch die Moderne zeigt die beiden Metropolen als kommunizierende Gefäße der Konkurrenz wie der Kooperation. Gemeinsam war der Beginn, die Sezessionen von der langweiligen Akademiemalerei, und das Ende, der politische Todesstoß. Dazwischen musste Wien den Rang als führende Kulturmetropole an die deutsche Rivalin abgeben, die sich auch wirtschaftlich viel schneller vom Krieg erholte.
Otto Friedrich, Elsa Galafrès 1908
Klischees geschickt konterkariert
Zuerst zog Wien alles in den Bann: Die multikulturelle Utopie machte es zum Sehnsuchtsort, wo der Jugendstil durch harmonische Gestaltung der Alltagswelt die Kultur mit dem modernen Leben versöhnen wollte. Ein naives Unterfangen, fanden die nüchternen Deutschen und zeigten lieber ehrlich und schonungslos das derbe Leben der Großstadt: „Gosse statt Ornament“. Sinnfällig zeigt die Schau, wie das kakanische Ideal verblasste. Carl Moll malt ein verlogen liebliches Birkenwäldchen, wo Max Liebermann hinter der Wiese am Berliner Stadtrand schon die Fabrikschlote aufragen lässt. Ludwig Meidners „Jüngster Tag“ macht die Schrecken des Krieges hautnaher erlebbar als Jungnickel mit seiner geschmäcklerisch-ornamentalen „Sintflut“. Aber die Kuratoren haben schlau vermieden, bei den naheliegenden Klischees stehen zu bleiben. In jedem Raum konterkarieren sie ihre These mit Parallelläufen, die der rege Austausch von Künstlern, Galeristen und Intellektuellen dann doch ergab.
Ernst Ludwig Kirchner, Frauen auf der Straße, 1915
So auch im Expressionismus, wo die „nervöse Seele“ bei Schiele und Kokoschka auf die „nervöse Stadt“ von Kirchner trifft, wo die subtile Zergliederung des Individuums den herben Karikaturen der Entfremdung in der Massengesellschaft schroff gegenübersteht. Aber neben Schieles Kosmack-Bildnis hängt ein deutsches Porträt, das die charakteristischen, knöchern verkrampften Hände aufgreift – so wie vieles aufgegriffen und ausgetauscht wurde.
Egon Schiele, Bildnis des Verlegers Eduard Kosmack, 1910,
Hermann Bahr siedelte nach Berlin, um Hauptmanns naturalistisches Theater zu studieren. Die Wiener Werkstätten regten den deutschen Werkbund an. Kokoschka zeichnete Titelblätter für die Kunstzeitschrift „Sturm“ des wichtigen Vermittlers Herwarth Walden. Boeckl malte Berliner Hinterhöfe. Im Kaffeehaus traf man aufeinander, auch wenn es in Berlin nicht gemütlich war, sondern ein „Industriegebiet der Intelligenz“. Als nach dem Krieg die Neue Sachlichkeit auch hierzulande das Kommando übernimmt, bleibt Rudolfs Wacker ein Psychologe im Dunstkreis Freuds: Seine Stillleben sind voll erotischer Anspielungen, während bei deutschen Kollegen „drei Orangen nur drei Orangen sind“, wie der Berliner Kurator Ralf Burmeister eingesteht. Aber mit Dada setzte Berlin ein neues Fanal, wo in Wien der Kinetismus sich mühte, die Avantgarden der letzten Jahrzehnte aufzuarbeiten. Doch auch hier zeigt die Ausstellung eine ehrenrettende Überraschung: den „Klessheimer Sendboten“, mit dem Erika Giovanna Klien eine poetisch-witzige „Grafic Novel“ schuf – und das schon in den Zwanzigerjahren.
Klessheim im Schnee. Ein Blatt aus dem Klessheimer Sendboten von Erika Giovanna Klien, um 1926
Traurige Gesichter, düstere Vorahnungen stehen am Ende, hüben wie drüben. Sie erinnern daran, dass der Kampf der Moderne doch ein gemeinsamer war – eine große Hoffnung, die der Faschismus zerstörte.
„Wien Berlin. Kunst zweier Metropolen“, vom 24. 10. bis 27. 1. 2014 in der Berlinischen Galerie, vom 14. 2. bis 15. 6. im Belvedere.
Otto Möller, Straßenlärm, 1920
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen