Donnerstag, 31. Oktober 2013

Die Tuilerien.


Von wem ist das? Von Claude Monet; es heißt Les Tuileries (étude), das Entstehungsjahr weiß ich nicht - aber es sieht schon sehr nach 20. Jahrhundert aus.


Architekturfotografie; II.


aus NZZ, 26. 10. 2013

Was uns der Schatten lehrt
Eine Begegnung mit der in London tätigen Architekturfotografin Hélène Binet

Der Architekturfotografin Hélène Binet kommt es nicht in erster Linie darauf an, ein Gebäude vollständig zu erfassen. Sie interpretiert es, wie eine Musikerin eine Komposition. Ihren Fotos wird gelegentlich eine Nähe zu Traumbildern nachgesagt. Und natürlich, sagt sie, sei sie selbst in jeder ihrer Aufnahmen enthalten.

von Marion Löhndorf

Auch wenn darin fast nie Menschen zu sehen sind, sind ihre Aufnahmen doch nicht menschenleer: Der Betrachter ist eingeladen, die von Hélène Binet wiedergegebene Architekturlandschaft zu betreten und selbst zu erleben: «Aber ich mache keine absolute Aussage über das Bauwerk.» Binet glaubt, dass die Wiedergabe auch nur einer einzigen Figur in einer Foto das Bauwerk bestätige, und das möchte sie vermeiden. Manche Fotografen, wie etwa Lucien Hervé, den sie verehrt, seien «fast Reporter» gewesen. Sie aber arbeitet anders: «Ich bin mehr am ursprünglichen Konzept interessiert, am Traum des Architekten - etwas Immateriellem, als er das Gebäude zum ersten Mal imaginierte und es noch unscharf war. Das versuche ich in meiner Arbeit zu vermitteln.»


Theatralische Elemente

Geboren wurde Hélène Binet 1959 in Sorengo im Tessin als Tochter französisch-schweizerischer Eltern. Aufgewachsen ist sie in Rom, geprägt von der klassischen Architektur. Sie war von früh auf umgeben von Künstlern wie Jean Petit, der mehrere Bücher über Le Corbusier schrieb. Ihre Eltern waren Musiker, ihr Grossvater der Komponist Jean Binet. Sie studierte Fotografie am Instituto Europeo di Design in Rom. Ihre Zwischenstation als Theaterfotografin am Grand Théâtre de Genève mag Spuren in ihrem Sinn für theatralische Elemente in der Architektur hinterlassen haben. Dann kam sie nach London, begann Architektur zu fotografieren, angeregt durch ihren Mann, den Architekten Raoul Bunschoten. Dieser stellte sie Daniel Libeskind und John Hejduk vor, der ihr Mentor werden sollte. An der einflussreichen Architectural Association School of Architecture (AA) traf sie viel später andere gefeierte Architekten, darunter Zaha Hadid und David Chipperfield.



Atmosphärisch profitierte sie von der investigativen Neugier und Aufbruchstimmung in der Architekturszene der 1980er Jahre. Der grosse Architekturlehrer der AA, Alvin Boyarsky, gab Hélène Binet die Gelegenheit, die Werke von Sigurd Lewerentz und Dimitris Pikionis zu fotografieren: Diese Arbeiten sollte Peter Zumthor eines Tages sehen. Sie führten dazu, dass er Binet, die Zumthor vorher nicht kannte, als Fotografin seines Werks verpflichtete. Dabei entstanden Fotografien, die der Liebe zum Schatten in Peter Zumthors Werk nachspüren, seiner eher introvertierten, sich nicht auf den ersten Blick erschliessenden Anmutung und der Belebung des Materials durch die Betonung des Sensorischen, die in Zumthors Werk eine so grosse Rolle spielt.

 
Bei aller Investigations- und Interpretationslust ist das Gebäude der Stoff, von dem Hélène Binet ausgeht: «Ich arbeite wie ein Musiker. Die Noten gehören zum Komponisten einer bestimmten Zeit. Ich würde die Musik einer anderen Zeit nicht spielen wie zeitgenössische Musik. Ich möchte der Welt und dem Werk des Architekten nahe sein. Und ich benutze die Architektur nicht nur, um meine eigenen Gedanken auszudrücken. Ich spiele die Idee des Architekten, gebe ihr einen Klang und fühle dabei zugleich, dass es mein eigener ist. Ich interpretiere Zumthor und Zaha nicht auf dieselbe Weise.» Man könnte sagen, dass sie Zaha Hadids kühnen Linien leisere Noten abgewinnt und den asketischeren Entwürfen Peter Zumthors dramatische Akzente hinzufügt. In den vergangenen 25 Jahren fotografierte sie sowohl zeitgenössische Bauten von Raoul Bunschoten, David Chipperfield, Peter Eisenman oder Caruso St John als auch moderne und historische Architektur von Sverre Fehn, John Hejduk, Geoffrey Bawa, Dimitris Pikionis, Alvar Aalto, Sigurd Lewerentz, Le Corbusier oder Andrea Palladio. Libeskind sagte über ihren sensiblen, unsentimentalen Blick: «Jedes Mal, wenn Hélène Binet eine Foto macht, legt sie die Leistung, die Stärke, das Pathos und die Zerbrechlichkeit der Architektur bloss.»


Unterschiedliche Annäherungen

Hélène Binet vertieft sich in das Werk der Architekten, mit denen sie sich befasst, nicht zuletzt mithilfe von Literatur und - weil sie seit mehr als zwanzig Jahren in dem Metier tätig und selbst mit einem Architekten verheiratet ist - wohl auch durch Osmose. Es geht ihr in ihrer Arbeit um die Berührung verwandter künstlerischer Sensibilitäten: «Die Annäherung ist jedes Mal eine andere. Manchmal bin ich als Erstes mit dem Gebäude konfrontiert, manche Architekten zeigen mir ihr Werk, und andere ziehen es vor, mit mir essen zu gehen. Einige begleite ich in ihr Studio, sehe, was ihn oder sie umgibt, die Bücher, die Farben, die Musik - man betritt dann eine Welt. Es ist nicht immer etwas Präzises, das sich da mitteilt, aber man erspürt etwas und baut darauf auf. Auch die Entwürfe anzusehen, ist schön.»


Hélène Binets eigene Werkstatt liegt im Norden Londons, in einem versteckten Hinterhaus in Kentish Town. Man betritt ihr Studio durch einen grün überwachsenen Innenhof, und die Grossstadt, die um die nächste Ecke noch dröhnt und schubst, kommt dort zum Stillstand. So, wie die Fotografin sich im Wesentlichen auf Schwarz-Weiss-Fotografie konzentriert, ist auch ihr Studio eine Welt in Sepiafarben, Grau, Braun und Schwarz.

Poesie der Nüchternheit

Jeder Gegenstand - Arbeitstische, Regale voller Bücher und Fotos - ist auf die Arbeit bezogen, zeigt Spuren des Benutztwerdens und ist eben nicht zum Vorzeigen gedacht. Kein Objekt steht wie zufällig dort, keines, vom Holzstuhl bis zum Schemel, sieht schwerfällig aus: Es ist eine Poesie der Nüchternheit, wie sie sich auch auf manchen ihrer Fotos andeutet. Etwa in ihren Arbeiten über die Londoner Kirchen von Nicholas Hawksmoor (zirka 1661-1736), in denen sich Einflüsse vieler Kulturen spiegeln. An ihnen entdeckte sie geheimnisvolle, oft unbeachtete Winkel und betonte das Drama, die Strenge und die Ungewöhnlichkeit ihrer Strukturen. Da der Architekt, ein Freimaurer mit Vorliebe für heidnische Symbole, sich mit ungewöhnlichen Türmen - ein Erkennungsmerkmal seiner Arbeit - auf die Stadt beziehen wollte, begab sich Binet auf ihre Höhe und fotografierte sie von umliegenden Gebäuden aus. So machte sie die Dimensionen der Hawksmoor-Kirchen im Verhältnis zu ihrer Umgebung erfahrbar. «Christ Church in Spitalfields zum Beispiel hat verrückte Grössenverhältnisse. Und Nicholas Hawksmoor selbst war ein sonderbarer Charakter - auch damit wollte ich ein bisschen spielen», sagt Hélène Binet. Ihre fotografischen Befragungen seines Werks waren 2012 an der Architekturbiennale in Venedig und in einer Ausstellung des Somerset House in London zu sehen - in kühnen Grossformaten.


Konzentration, Vertiefung und Zuspitzung gehören zu den Merkmalen von Binets Arbeit. Ihren Aufnahmen ist nicht nur die Kunst des genauen Hinsehens eingeschrieben, sondern auch das Nachdenken über die Motive, über Architektur und Fotografie. Man hat ihren Fotos, den Ergebnissen nahezu meditativer Vertiefung, gelegentlich die Nähe zu Traumbildern nachgesagt. Je länger sie ein Gebäude, das sie fotografiert, in sich aufnehmen könne, desto besser, findet sie. So hielt sie sich im Kunstmuseum Kolumba, das Peter Zumthor für das Erzbistum Köln schuf, fast zwei Wochen auf, um den Bau in unterschiedlichen Licht- und Schattenverhältnissen an verschiedenen Tageszeiten zu erleben und kleine Dinge wie das Zusammenspiel zweier Materialien zu entdecken.


 
Zu dieser Arbeitsweise passt Binets Ablehnung praktischer und schneller Digitalfotografie: «Mit Film zu arbeiten, ist eine ganz andere geistige Erfahrung. Es ist teuer, es ist schwer - daher muss man vorbereitet sein. Es ist kostbar, und so muss man bei jeder Foto sagen können: Das ist der Moment! Jetzt! Ich glaube wirklich daran, dass die Seele der Fotografie ihre Beziehung zu einem einzelnen Moment ist. Und die Konzentration ist eine ganz andere. Das Licht verändert und bewegt sich ständig. Es ist wie eine Performance, besitzt Eigendynamik.»


Dass die Architekturfotografie sich mit dem in den vergangenen Jahren enorm gestiegenen Interesse an der Architektur verändert hat, begrüsst Hélène Binet: «Heute ist das Interesse an und das Wissen über Architektur sehr gewachsen. Das ist gut, denn die Architektur ist ein so wichtiger Teil unseres Lebens. Sie ist zugänglicher geworden. Ikonische Gebäude sind Reiseziele geworden, das Reisen selbst wurde einfacher, es gibt mehr Bücher zum Thema, mehr Fotografen. Viele arbeiten in hoher Qualität. Zugleich macht jeder Architekturinteressierte seine eigenen Fotos mit dem Smartphone. Kaum erhebt sich ein Gebäude nur ein paar Meter über den Boden - noch als Baustelle -, gibt es die ersten Fotos. Visuelle Information ist allgegenwärtig.» Beunruhigend findet Hélène Binet das nicht: «Früher wurde die Architekturfotografie fast als Teil der Arbeit betrachtet, Architekten wie Le Corbusier investierten viel in die Fotografie, die ihre Arbeit repräsentieren sollte. Sie mussten sich stärker darauf verlassen. Heute habe ich diese Verantwortung nicht mehr, denn eine Foto braucht nicht mehr alles über ein Bauwerk mitzuteilen. Das empfinde ich als befreiend. Ich kann mich auf meine Arbeit konzentrieren. Ich glaube, dass die Architekturfotografie unabhängiger wurde.»


Zu den Fotografen, die ihre Arbeit beeinflussten, gehören Lucien Hervé, László Moholy-Nagy und Judith Turner. Deren Werk lehrte sie in ihren Anfangsjahren, dass Architekturfotografie sehr reich sein kann. Denn natürlich will Binet mit ihrer Arbeit Aussagen treffen, die über die Architektur hinausgehen. «Ich mag die Stille und die Reduktion als Weg der Verbindung zu etwas Grösserem. Wenn zu viel Lärm um uns herum ist, wenn zu viel passiert, findet das nicht statt. Ich bin zwar nicht von der Reduktion um ihrer selbst willen fasziniert - aber sie erlaubt uns, eine einzelne Sache ganz genau wahrzunehmen.» Sie spricht von einem Observatorium in Jaipur - «nur ein kleiner Schatten kann uns mit dem Rest des Universums verbinden» -, von Peter Zumthors Therme Vals, einem Bau aus «Stein, Wasser und Licht», und seiner Bruder-Klaus-Kapelle auf einem Feld in Deutschland. Die Grösse eines Gebäudes rufe die erste und stärkste emotionale Reaktion hervor: «Wenn ein Objekt kleiner ist, gibt es fast eine physische Verbindung. Wenn es gross ist, habe ich immer das Gefühl, an einer anderen Stelle darin sein zu müssen.»


Schatten als Thema

Der aufwendig gestaltete Bildband «Composing Space» (erschienen 2012 bei Phaidon in London) lädt zu einem Spaziergang durch das Werk der Fotografin und durch ein Stück Architekturgeschichte zugleich ein. Hélène Binet hat die Zusammenstellung und Auswahl selbst übernommen und damit das Buch gewissermassen kuratiert. Zwischentitel wie «Memory», «Materiality» und «Ground» lassen dem Betrachter Spielraum für die eigene Imagination - so wie ja auch ihr Werk eine subtile Balance zwischen formaler Geschlossenheit und Offenheit hält. Die vielen Schwarz-Weiss-Aufnahmen werden nur gelegentlich von Farbabbildungen unterbrochen: «Man betrachtet ein Gebäude und sieht, was es im Laufe eines Tages oder der Zeit tut; all diese kleinen Phänomene, die ein Bauwerk erzeugen kann. Eine Art, ein Gebäude zu sehen, ist die Farbe. Manchmal mag ich Farbe. Ich habe nicht die Absicht, etwas Obskures zu erschaffen. Aber wenn man reduziert, dann ist es, wie Aristoteles sagt: Man hört besser im Dunkeln.» Natürlich seien da auch die Schatten - ein grosses Thema in ihrer Kunst -, die sie als Abwesenheit von Energie mit der Stille vergleicht. Schatten könnten einen aber auch in die Irre führen, sagt sie, «weil man das Gefühl haben kann, dass man da noch etwas anderes sieht. In anderen Kulturen aber hat es diese Interpretation des Schattens schon immer gegeben: Schatten führten immer zu etwas anderem.»

Nota.

Das ist ja alles schrecklich maniriert. Sie fotografiert, als solle man nicht erkennen können, dass es sich um Häuser handelt. Sie hat ja auch eine Vorliebe für ArchitektInnen, die so bauen, als dürfte man nicht erkennen, dass es sich um Häuser handelt; und das ist des Schönen etwas viel. Wie konnte das der Rezensentin nicht auffallen?
JE


Mittwoch, 30. Oktober 2013

Architekturfotografie, I.

aus NZZ, 26. 10. 2013                                                                         aus Chaubin, Cosmic Communist Construction Photography

Dialog der Bauwerke, Einsamkeit der Nutzer
Die zeitgenössische Architekturfotografie kennt ganz unterschiedliche Positionen

Architekturfotografie begnügt sich nicht mit der präzis erfassten Wiedergabe der Anatomie eines Gebäudes. Die Standpunkte reichen vom praxisorientierten Zugang über Freiräume der Imagination bis hin zum Augenmerk auf Rückbau und Absurdität entfesselter Bautätigkeit. 

von Andrea Gnam 

«Offenbar schlug ein kühner Architekt vor, als Brest nach dem Krieg in Ruinen lag, wo man schon alles neu bauen müsse, da sollten doch alle Einwohner das Meer sehen können: Man könne doch die Stadt im Halbkreis wieder aufbauen, nach hinten immer höhere Häuser, die Stadt bis an den Rand der Strände gezogen.» So setzt Tanguy Viels 2009 erschienener Roman «Paris-Brest» ein. Statt der Freigabe des Blicks und der Aufkündigung sozial differenzierender Höhenunterschiede sei es zu einem Wiederaufbau gekommen, der die Hafenstadt «kubisch und abgeplattet» erscheinen lasse «wie eine aztekische Pyramide abgeschnitten mit einem horizontalen Sensenhieb». Solch literarische Architekturkritik, die mit einprägsamen visuellen Bildern arbeitet, rüttelt an dem, was Architektur und Architekturfotografie im gelungenen Fall materiell und immateriell in Aussicht stellen: Freude am Ausblick, eine soziale Perspektive, die Reminiszenz an tradierte geometrische Formen, die aber auch wie hier zum Nachteil für die städtische Situation gegen den Strich gebürstet werden können. 
 
Brest 1944

Stimmungen und Zwischenräume

Sofern Architekturfotografie heute nicht als klassische Auftragsarbeit lediglich Ansichten zur dokumentarisch-werbenden Identifizierung bietet oder Bauten wie Stars in Szene setzt (vor wolkenlosem Himmel in leichter Untersicht), ist sie offen für den Raum, den Architektur formt und umschliesst. Georg Aerni unterscheidet in «Bildbau - Schweizer Architektur im Fokus der Fotografie» (Christoph-Merian-Verlag, Basel 2013) zwischen Aufnahmen zum professionellen Gebrauch, bei denen die Präsentation des Objekts im Vordergrund steht, und einer weiterreichenden Beschäftigung mit dem Gegenstand: «Bei den freien Arbeiten fokussiere ich eher Zwischenräume, und ich versuche, Bilder zu komponieren, auf denen alle Bildbereiche mehr oder weniger gleichbedeutend sind.» Stimmungen und «imaginäre Verbindungen» zu schaffen, «die nah an der Wahrnehmung von Raum sind», sieht Hélène Binet als Vorteil der wohlkomponierten Bildfolge im Medium Fotobuch. Das sind Überlegungen, die davon ausgehen, Gebautes nicht nur als Baukörper visuell zu erfassen, sondern auch als körperliche Erfahrung sichtbar werden zu lassen. Solcherart Architekturerlebnis ist in seinen feinen Abschattierungen von Licht, Tageszeit, Wetter und der Umgebungssituation abhängig. Was in der analogen Fotografie als eine Art Nabelschnur des Bildes zur Situation vor der Kamera mit dem Begriff «Realitätseffekt» bezeichnet wird, das ist hier die Beziehung zu einer vorgefundenen Situation: Anlass für die Aufnahme ist das Gebäude, wie es in seiner Umgebung steht, oder das Haus, das vom Fotografen mit der Kamera in der Hand durchschritten wird.
 
Georg Aerni, in Bildbau - Schweizer Architektur im Fokus der Fotografie

Zeigt der Fotograf hier Ausblicke, die rein ästhetisch geschaffen und ein Produkt seiner Aufmerksamkeit und seines Könnens sind, abhängig von der Wahl der technischen Mittel? Hat das so entstandene Bild etwas mit der alltäglichen Erfahrung von Architektur zu tun? Oder ist es grundsätzlich das Resultat einer Ausnahmesituation, welches auf die Schönheit, die Gefahren, die Möglichkeiten von Architektur aufmerksam macht oder diese sogar weitsichtig antizipiert?

Thomas Florschuetz, der sich nicht als «Architekturfotograf» verstanden wissen will, gelingt es durch das präzise
Setzen von Ausschnitten und Durchblicken, in vertikal, diagonal und horizontal angelegten Blickführungen, im Einfangen feinster Grauabstufungen der Wandoberfläche und farblicher Akzente, das Versprechen vor Augen zu führen, das die Architektur der Moderne auch heute noch für uns bereithält (in: «Assembly», Hatje Cantz, Ostfildern 2013). Es liegt weniger im kommunikativen Austausch als in ruhiger Konzentration und funktionaler Reduktion, einer Askese, die bestimmter mentaler Voraussetzungen - und wohl des Alleinseins - bedarf. Auf solchen Aufnahmen, die im visuellen Wechselspiel zwischen Bergen und Öffnen den Fokus auf die Qualität gestalteter Zwischenräume richten, kommen körperliche Momente zum Vorschein, wie sie sich einem im ungehinderten Umhergehen erschliessen. In der Alltagswahrnehmung bilden diese Erfahrungen lediglich einen Grundstrom der Befindlichkeit, auf dem Bild haben wir es mit einem Konzentrat zu tun. «Eigentlich ist eine gute Architekturfotografie eine Fotografie, die viele Fragen stellt. Und wenn eine Architektur gut ist, dann stellt auch sie viele Fragen», erklärt Armin Linke (in: «Concrete. Fotografie und Architektur», Scheidegger & Spiess, Zürich 2013) das Spannungsverhältnis zwischen Architektur und Fotografie.
 
aus Armin Linke, Concrete. Fotografie und Architektur

Wie vertraut soll und darf ein Fotograf mit den Räumen sein, über die er arbeitet? Thomas Ruff kokettiert als Fotograf sogar mit seiner körperlichen Abwesenheit und delegiert Aufnahmen an andere Fotografen, um sich auf die Position der Konzeption zurückzuziehen, mit der Begründung, es wäre arbeitstechnisch unsinnig gewesen, für einen Auftrag 500 Kilometer zurückzulegen: «Besser, das erledigte jemand vor Ort, der nur fünf Minuten fahren musste» (in: «Bildbau», 2013). Ganz anders Christian von Steffelin, der, um im Inneren des Berliner «Palastes der Republik» zu fotografieren, dessen Rückbau kurz bevorstand, sich auch Strategien der Mimikry bedienen musste, um überhaupt eingelassen zu werden (Hatje Cantz, Ostfildern 2011). Mit wie viel Umsicht bewegt man sich fast als Letzter in solcherart kostbar gewordenen Räumen, welches Gewicht erlangen hier die Details, die später als Statthalter für das Ganze stehen? Steffelin fand eine schöne Lösung: Er kontrastierte Raumaufnahmen mit Grossaufnahmen der im Innenbereich zum Einsatz gekommenen Materialien und Fotos aus der DDR-Zeit.
 
Christian von Steffelin, Loch / Palast der Republik, 2006,

Beklemmende Kulissen

Nicht immer auf den ersten Blick zu durchschauende Sonderfälle bilden Aufnahmen, die den - in der älteren Malerei so beliebten - Architektur-Capriccios verwandt sind. Düster endzeitliche, aus vielen Aufnahmen digital erstellte Bild-Kompilationen finden sich bei Beate Gütschow, als heiter-vertrackt erweist sich Gerhard Vormwalds Werkkomplex «Concrete Illusions» mit Konstruktionen, die teilweise auch einem eigenmächtigen Bauherrenwillen auf dem Land entsprungen sein könnten. Aus modernen Architekturelementen und Gerümpel sind die futuristisch anmutenden «Favelas» von Dionisio González zusammengesetzt. Bei Nachbauten von Architektur handelt es sich ebenfalls fast schon um ein eigenes Genre. Aus Legosteinen erbaute und aus der Vogelperspektive aufgenommene, schwindelerregende Ansichten finden sich bei Andreas Zimmermann, die real beklemmenden Kulissen des für die französische Armee zu Übungszwecken aufgebauten Phantomdorfs Jeoffrécourt rückt Guillaume Greff (in: «Dead cities», Kaiserin Editions, Paris 2013) ins Blickfeld.
 
Guillaume Greff, Jeoffrécourt in Dead cities

Absurdität und Traurigkeit strahlen Bauwerke aus, die ihren politischen Kontext verloren haben und alleine stehen geblieben sind. Ihres Anspruchs beraubt, sind das verbrauchte Architekturen, die eines unvoreingenommenen Blicks und eines Fotografen bedürfen, der ihren übergreifenden, formalen Zusammenhang ebenso aufspürt wie das, was trotz vielen enttäuschten Erwartungen bleibt. So geraten Bushaltestellen in Armenien (Ursula Schulz-Dornburg) und besonders individuell gestaltete Anlagen in der ehemaligen UdSSR (Christopher Herwig) in den Blick, wie jüngst eine Ausstellung zur Sowjetmoderne im Architekturzentrum Wien zeigte. Frédéric Chaubin zeigt im Bildband «Cosmic Communist Constructions» (Taschen-Verlag, Köln 2011) Gebäude aus der Sowjetzeit in ihrer überbordenden und doch bürokratisch genormten, kühn absurden Phantastik.
 
 aus Frédéric Chaubin, Cosmic Communist Constructions

Hier wird deutlich, was heute auch skulpturaler Stararchitektur in ihrer globalen Standortlosigkeit vorgeworfen wird: Die Bauwerke der Architekten halten weltweit untereinander Zwiesprache, aber nicht mit ihrer unmittelbaren Umgebung. Es sei denn, ein Fotograf erkennt auch hier wieder eine Struktur, die manchmal allerdings auch ein Effekt der Übersetzung in die Zweidimensionalität sein kann: HG Esch schafft in «City and Structure» (Hatje Cantz, Ostfildern 2009) mit einem europäisch-traditionellen Blick von oben eine in Form- und Farbkorrespondenzen überwältigende Geometrie der grossen, von Sonnenlicht oder nächtlicher Beleuchtung durchfluteten Städte. Einem historischen Gestus verpflichtet kommt das Prinzip der Reihung daher, wie es sich etwa im Bildband «Manhattan New York» (Schirmer/Mosel-Verlag, München 2007) präsentiert, in dem Gerrit Engel bekannte und weniger bekannte Gebäude Manhattans nach ihrem Entstehungsjahr porträtiert.
 
aus HG Esch, City and Structure 

Eine besondere Form der historischen Aufmerksamkeit gegenüber Architektur stellt sich mit der Frage nach ihrem Gebrauch. Denn in der Regel werden Gebäude in ihrer Jugendblüte fotografiert. Wie aber bewähren sie sich auf Dauer? Sollte man soziologisch auch nach Nutzungsmöglichkeiten unterscheiden - schliesslich werden die Räume eines Museums, eines öffentlichen Gebäudes oder einer Villa anders erfasst, je nachdem, ob man darin zu Besuch ist oder dort arbeiten muss? Ila Bêka & Louise Lemoine gehen diesen Fragen nach, sie prüfen - mit ironischem Abstand in ihrem Film- und Fotoprojekt «Living Architectures» Räume von Stararchitekten aus der Sicht von Putzpersonal («Koolhaas Houselife», 2013) oder untersuchen sie auf ihre Brauchbarkeit zum Essen und Feiern («Pomerol, Herzog & de Meuron», 2013).
 
aus Ila Bêka & Louise Lemoine, Living Architectures

Für die Idee einer «Amateur-Architektur» macht sich Wang Shu als Architekt stark. Diese huldigt keiner kühnen Idee, ist keiner dauerhaft festgelegten Form verpflichtet, sondern lässt möglichst viele Nutzungsmöglichkeiten offen, die sich erst in der Realisierung durch die Bewohner ergeben. Eine solch pragmatische Sichtweise, die sich zum Temporären hin öffnet, mag ihre Anregungen oder ihre Notwendigkeit von der Strasse holen: von den einfachsten Behausungen, die gerade in den Megastädten Asiens und Afrikas Seite an Seite mit gigantischer Repräsentationsarchitektur einhergehen oder andernorts von zeitweiligen Protestcamps auf öffentlichen Plätzen. Für eine offene, flexible Konzeption, die je nach Umständen sich wechselnder, auch kontrastierender Mittel von Entwurf, Material und Darstellung bedient, votiert Eike Becker mit seinem Konzept der «Superferenz» (Hatje Cantz, Ostfildern 2012). Interessanterweise arbeiten er und sein Büro mit kühnen Tuschzeichnungen, die an Kalligrafie erinnern, um ihnen recht biedere Architekturfotografie zur Seite zu stellen.
 
aus Eike Becker, Superferenz

Statement und Bekenntnis

Welche (materiellen) Bilder indes Architekten als für ihre Arbeit bedeutend erachten, ist Gegenstand von Valerio Olgiatis Bilder-Buch «The Images of Architects» (Quart-Verlag, Luzern 2013). Er hat 44 bekannte Architektenkollegen (darunter nur fünf Frauen)* gebeten, solche Bilder zusammenzustellen, wie er es selbst bereits seit Jahren tut. Neben Zeichnungen sind es eine Reihe von Fotografien: Man sieht Ansichten von Eisenkonstruktionen, Rückenfiguren der Malerei, die in die Ferne blicken (Hans Kollhoff), oder Menschenansammlungen im Wechsel mit Bildern vom Wald (Sou Fujimoto). Einiges mag mehr Statement als Bekenntnis sein, anderes reflektiert wie die Bildauswahl von Adam Caruso und Peter St John, die das Spannungsfeld auslotet, innerhalb dessen sich Architektur zwischen Repräsentation, Nutzung und sakral-meditativem Freiraum positioniert: Ein Fahrradfahrer dreht eine Kurve, im Hintergrund erhebt sich die Fassade einer Bank im brutalistischen Stil; der Kreuzgang einer Abtei; zum Trocknen aufgehängte Wäsche vor einer Siedlung; der Nike-Tempel in Athen neben einem Zementwerk als liegendem, dreiseitigem Prisma auf dem flachen Land in den USA - fremd und ein wenig seltsam anmutend wie Tanguy Viels ins Weichbild von Brest projizierte Pyramide aus dem Aztekenreich.

PD Dr. Andrea Gnam ist Privatdozentin für deutsche Literatur an der HU Berlin, lehrt auch an der Universität Wien und ist Mitglied der Deutschen Fotografischen Akademie. Sie ist die Autorin von zahlreichen wissenschaftlichen und journalistischen Publikationen zu Kunst, Fotografie, Medien und Literatur (Fotoblog http://fotobuch.gnam.info).

aus Chaubin, Cosmic Communist Constructions  

*) Doch wieviele Rothaarige und wieviele Blauäugige? Das interessiert mich viel mehr.
JE 

Dienstag, 29. Oktober 2013

Ist das überhaupt Kunst?

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Neuigkeiten von Levi und Nofretete

Beate Hentschel Presse,  
Kommunikation und Marketing  
Georg-August-Universität Göttingen

28.10.2013 09:58

Neuigkeiten von Levi und Nofretete
Universitätsbund Göttingen verleiht Dissertationspreis an zwei Göttinger Promovenden

pug) Für ihre mit „summa cum laude“ bewerteten Promotionen wurden Harald Samuel und Kai Widmaier mit dem Dissertationspreis des Universitätsbundes Göttingen ausgezeichnet.

... der Ägyptologe Widmaier entwirft einen Paradigmenwechsel von der Kunstgeschichte hin zu einer ägyptologischen Bildwissenschaft. Der mit jeweils 4.000 Euro dotierte Dissertationspreis des Universitätsbundes wird von der AKB-Stiftung gefördert. Der Vorsitzende des Auswahlgremiums, Prof. Dr. Reinhard G. Kratz, überreichte die Auszeichnung am 26. Oktober 2013 im Rahmen des Göttinger Alumni-Tages. Die Laudationes hielt der Göttinger Ägyptologe Prof. Dr. Friedrich Junge.


...Sollen Ägyptologen die Büste der Nofretete kunsthistorisch einordnen? Kai Widmaier setzt sich in seiner Arbeit „Bilderwelten: Ägyptische Bilder und ägyptologische Kunst. Vorarbeiten für eine bildwissenschaftliche Ägyptologie“ kritisch mit der Wahrnehmungspraxis seines Faches auseinander, ägyptische Gegenstände wie Plastik, Malerei und Reliefs seien Kunst. Nach Überlegungen zu den Grundbegriffen Kunst und Stil entwirft er eine bildwissenschaftliche Alternative, die zwischen „ägyptologischer Kunst“ und „ägyptischen Bildern“ unterscheidet. Er fordert für sein Fach, bei der Arbeit am ägyptischen Bild auf den Kunstbegriff und den musealen Blick zu verzichten. „Die Dissertation von Dr. Widmaier ist eine der wichtigsten Arbeiten der vergangenen 20 Jahre und wird die Ägyptologie als Disziplin nachhaltig verändern“, so Erstgutachter Prof. Dr. Gerald Moers vom Institut für Ägyptologie der Universität Wien. Kai Widmaier studierte Ägyptologie an der Universität Göttingen und wurde hier 2012 promoviert. Er ist Mitherausgeber der Fachzeitschrift „Lingua Aegyptia“. Für seine Dissertation wurde er zudem beim Tag der GSGG am 24. Oktober 2013 mit dem Christian-Gottlob-Heyne-Preis ausgezeichnet.

Kontaktadressen:

Kai Widmaier
Rambatzweg 5
22303 Hamburg
Telefon (040) 32842131
E-Mail: KaiWidmaier@web.de

Montag, 28. Oktober 2013

Emil Nolde, der entartete Nazi.

aus Der Standard, Wien, 25.10.2013                                                                                                     Selbstbildnis, 1917

Ein Nationalsozialist als "Parade-Entarteter"
Das Kolorit in Emil Noldes Bildern ist mächtig: "Glut und Farbe" heißt die umfassende Retrospektive, die einen herausragenden Maler vorstellt. Was in der Ausstellung trotzdem nicht fehlen dürfte, ist ein zeithistorisches Kapitel über dessen Nazi-Sympathie

von Anne Katrin Feßler

Wien - 1600 Nolde-Blumen ließ das Gartenamt Baden-Baden rund um die Ausstellung Die Pracht der Farbe im Museum Frieder Burda erblühen. Rund 80 Blumenbilder Emil Noldes (1867-1956) waren in der Ausstellung zu sehen, die bis Mitte Oktober 140.000 Besucher angelockt hat. Der Herbst in Wien verspricht zwar keine Blumen, aber mit Emil Nolde. In Glut und Farbe im Belvedere auch sehr farbstark zu werden.

Begegnungen am Strand 1920

Das intensive Kolorit kommt bei Nolde fast in jedem Ausstellungstitel vor, sagt Kurator Stephan Koja, dem in diesem Zusammenhang besonders Farben heiß und heilig (Stiftung Moritzburg, 2013) gefällt; es ist genauso wie In Glut und Farbe ein Zitat Noldes.

Tropensonne, 1914

Statt allein Blumen präsentiert Koja gut 190 Werke aus allen Schaffensperioden, gliedert sie in logische, chronologische Kapitel. Und fürwahr begegnet dem Betrachter dort ein leidenschaftlicher Farbmagier: Bevor er um 1910/11 die Farbe in seinem Oeuvre entfesselte, strichelte er im Frühwerk expressionistisch: etwa drollige Bergriesen, aufreizende Traumwesen oder beschauliche Landschaften. Es folgen pastose Stimmungsbilder der See: vom Gewittersturm aufgewühlt, vom Sonnenuntergang in Brand gesteckt oder verhängnisvoll und tiefschwarz. Nolde stürzt sich mit seiner Ada in nächtliche Halbwelten, malt Tänzer, Trinker, Teufel. In großem Kontrast dazu, die religiösen Bilder Noldes, die viele seiner Kollegen nicht guthießen; Ernst Ludwig Kirchner, einstiger "Brücke"-Kollege beklagte den "Formenschatz des Mittelalters".

Kreuzigung

Neben dämonisch leuchtenden Landschaften der 1920er- und mystischen Meerbildern der 1940er-Jahre widmet man sich Noldes Südseereise, dem Einfluss auf österreichische Maler und zu guter Letzt den "legendären 'ungemalten Bildern'":

Marschlandschaft mit Mühle, 1920-1925
 
Er fühlte sich unverstanden ...

Nolde - zur NS-Zeit als "entartet" eingestuft und mit Malverbot belegt - schuf diese Aquarelle, die "nicht sein durften", zurückgezogen im Geheimen. Es grämte ihn zutiefst, so verfemt zu werden, war er doch Parteimitglied seit 1934 und hatte im Memoirenband Jahre der Kämpfe guten Einblick in seinen Antisemitismus gegeben.

Berglandschaft

Die "Glut" im Titel darf jedoch nicht als Verweis auf Noldes glühende Nazi-Anhängerschaft gedeutet werden. Die Ausstellung belässt es bei kurzen Verweisen auf "Mitgliedschaft" und "Sympathie". Aber ein zeitgeschichtliches Kapitel zu Noldes bereits um 1910 geführten "Kulturkämpfen gegen die Überfremdung (...) und die alles beherrschende jüdische Macht" hätte einer Retrospektive mit derart umfassendem Anspruch gut zu Gesicht gestanden.

Sonnenuntergang mit zwei Seglern, 40er Jahre
 
... der Bewunderer Hitlers

Und zwar nicht nur, weil Die Zeit diesen Aspekt in Noldes Biografie aufgrund von Briefen an seinen Schüler Hans Fehr vergangene Woche aufgegriffen hat. Dort ist unter anderem zu lesen: "Der Führer ist groß und edel in seinen Bestrebungen." Bald werde "die Sonne hier durchbrechen, diese Nebel zerstreuend". Naturvergleiche, wie sie sich im Grunde auch in den dramatischen Bildern Noldes wiederfinden lassen; seine Ansichten werden nicht besser, nur weil die Nationalsozialisten seine Kunst nicht als "ihre" erkannten.




 
Dschunke, 1914

Wie auch Koja bemerkt, sind diese Aspekte in Noldes Biografie ebenso aus anderen Quellen bekannt. Noldes "blöde" Aussprüche allerdings nur im Katalog zu zitieren oder auf Publikationen wie Mein Leid, meine Qual, meine Verachtung. Emil Nolde im Dritten Reich (Thomas Knubben, 1999) zu verweisen, reicht das? Reicht es, keine Propagandakunst gefertigt zu haben, keine Filme wie Heimkehr (G. Ucicky, 1941)? Ist Kunst Kunst und Zustimmung zur NS-Ideologie reine Charakterfrage?

 
Meer mit Dampfer 1945-48

Im Fall des Bildhauers Gustinus Ambrosi, der sich vom Speer-Günstling zum "Nazi-Opfer" stilisierte (Nolde: erst von Goebbels gesammelt, dann "Parade-Entarteter"[Koja]) wurde von Francesca Habsburgs Kunstplattform TBA21, die seit 2012 dessen Augarten-Atelier bespielt, Historiker Oliver Rathkolb mit einem Essay beauftragt. Das wäre auch dem Belvedere zumutbar gewesen.

?

Ist es ein österreichisches Phänomen? Angesichts dessen, dass Österreich sich im Museum Auschwitz-Birkenau bis zum 22. Oktober "entgegen dem zeitgemäßen Geschichtsbild" noch als "erstes Opfer des Nationalsozialismus dargestellt" hat (Hannah Lessing, Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus), läge dieser Verdacht nahe. Aber dem ist nicht so.

So gehts aber auch: Nordseeabend, 1935

Im Katalog zu Mensch Natur Mythos (2009, Staatliche Museen zu Berlin) wird Noldes Klagen und Bitten um Aufhebung der Diffamierung als "entartet" mit Hinweisen auf seinen Kampf "gegen die Überfremdung der deutschen Kunst" relativiert. Von "taktisch begründeter Affirmation der NS-Ideologie" ist hier die Rede. Das ist heruntergespielt.

Bis 2. 2. 2014

 Abendliche Marschlandschaft 1938

Nota.

Wir haben ja das Wagner-Jahr, da wurde zu dieser Thematik schon einiges gedruckt. Denn bei Wagner, nicht wahr, kann man von der Kunst nicht reden, ohne von seiner Weltanschauung zu reden. Aber schon da muss man unterscheiden. Ob die sich in seinen Klängen und Harmonien niederschlägt, ist eine ähnliche Frage wie: ob man aus Mendelssohns Musik Judentum raushört. Es gibt Leute, die finden Wagners Musik schwülstig, zudringlich und kitschig, und schlaue Leute könnten meinen, das gälte für die NS-Kunst ja auch... Ein Malerkollege (ich glaube, es war Paul Klee) hat Noldes Farbexzesse ihrerseits als Kitsch abgetan, und manch ein Feuilletonredakteur würde sich mit dieser Volte zufriedengeben.

Aber Wagners Musik gehört zu Texten, zu denen sie passt wie die Faust aufs Auge, das muss man ihm lassen. Und diese Texte, Musikdramen, bringen allerdings die sie tragende Welt- und Lebensanschauung zum Ausdruck - eine theatralische Antibürgerlichkeit zu einem völkischen Herz- und Bauchspeicheldrüsensozialismus aufgebläht und mit dem hierbei unvermeidlichen Antisemitismus versetzt. Ob man es Wagner als persönliche Schuld anrechnen soll, dass aus diesem Gebräu auch der Nationalsozialismus seine Ideologie gekocht hat, gehört weder in kunsthistorische noch in ästhetische Erörterungen. Aber dass die Nationalsozialisten sich nicht ohne Berechtigung wirklich auf Wagner berufen haben, ist eine Tatsache, an der auch künstlerischer und ästhetischer Feinsinn nichts beschönigen kann.

Ob Noldes Malerei schwülstig, zudringlich und kitschig ist, ist eine kunstkritische Frage. Und die ist mehr als berechtigt; aber das gilt für den Brücke-Expressionismus überhaupt. Dass ebendies einen (großen?) Teil seines ästhetischen Reizes ausmacht, gehört schon ein bisschen zur Antwort. 

Und dass Noldes dunstige Weltsicht in seinen Farben ihren Ausdruck findet, wird man ohne großen Streit wohl auch sagen können. Aber dass ihm eine Verantwortung dafür zufiele, dass seine Malerei den Nationalsozialismus befördert hätte und dass die Nazis sie für ihre Zwecke ausbeuten konnten, ist offenkundig falsch. Wenn er es auch nicht verstehen wollte: Sie haben seine Kunst zu Recht zu der entarteten gezählt. Wo von seiner Kunst geredet wird, muss davon geredet werden. Dass er in seinem Herzen selber Nazi war, gibt der Sache eine komische Tragik und mag in seiner Biographie einen großen, in einem Ausstellungskatalog aber nur eine kleinen Platz einnehmen.
J.E.



 

Samstag, 26. Oktober 2013

Wien - Berlin, II.

 
aus Süddeutsche.de,Franz Lerch, Mädchen mit Hut, 1929.


Zum Schönen gezwungen
 
Von Ruth Schneeberger, Berlin 
 
...Weil es sich um Kunstwerke von der Secession bis zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten handelt, ist das alles nicht neu und war - bis auf wenige Ausnahmen - auch anderswo schon zu sehen. Und die Kombination Wien-Berlin ist nun auch keine, die zwingend ein Massenpublikum hinterm Ofen hervorlocken müsste. Trotzdem stehen hier Besucher noch bis in die Nacht an, um in einzelne Räume hineingelassen zu werden; Ordner müssen dafür sorgen, dass der Andrang pro Rundgang nicht zu groß wird. Das liegt unter anderem daran, dass die Berliner sich für ihre Stadt interessieren - und für deren Widerhall in Kunst, Medien und Kultur. Und dass sie ein offenes Völkchen sind. Wie man dann auch an der Ausstellung und im Vergleich mit Wien noch einmal deutlich erkennt.
 
Franz Skarbina, Dame auf der Wandelbahn eines Seebades, 1883, 

"Volk ohne künstlerische Instinkte" 

...Und sie sind auch an Berlin-Bashing gewöhnt. "Dort lebt ein Volk ohne künstlerische Instinkte", urteilte einst die Wiener Journalistin und Kunstkritikerin Berta Zuckerkandl, wie Klebba verlas. "Ein Volk mit zersetzender, nutzenabwägender Verstandesart, fremd dem heiteren Zug der Phantasie. Es muss sich förmlich zum Schönen zwingen, um eine Empfindungsfähigkeit zu erlangen, welche der Wiener aufgrund seiner Veranlagung von Hause aus besitzt. Aber diese Leute haben an sich gearbeitet. Sie haben mit Macht alles Fremde an sich gerissen, um zu sehen und zu lernen. Und so hat Verstandesarbeit bessere Resultate ergeben als Talent." Soweit das doch ein wenig vergiftete Lob der damaligen Kunstkritikerin. Dazu muss man wissen: Die alte Kaiserstadt Wien hatte gerade ihren Rang als führende Kunststadt an den Newcomer Berlin als Reichshauptstadt abtreten müssen. Berlin war schwerst angesagt. Da kann man als Wiener Kulturinstanz schon mal ein bisschen säuerlich reagieren. 

Jeanne Mammen, Schachspieler, 1929-30.








 
Die Ausstellung zeigt indes, wie sich beide Metropolen von der Jahrhundertwende bis zur Machtergreifung durch die Nazis künstlerisch entwickelten - nämlich auf sehr unterschiedliche Weise, aber dennoch stark verbunden.

Max Liebermann vs. Gustav Klimt
 
Erstmals werden hier zentrale Werke der Berliner und Wiener Moderne zusammen gezeigt, von den Secessionen über den Expressionismus bis zur Neuen Sachlichkeit. Die Secessionisten wollten zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Abkehr vom allzu akademischen Kunstbetrieb zwischen Jugendstilkunst und Spätimpressionismus bewegen. Neue künstlerische Ausdrucksmittel wurden gesucht, um den Aufbruch in die Moderne zu verkünden. Doch während sich die Berliner Künstler um Max Liebermann zunehmend der Alltagswirklichkeit widmen (schwer arbeitende Frauen, Bettler am Rande des Glanzes der Stadt) und die Erfahrungen mit der Großstadt aufs Papier bringen (Vergnügungsviertel, die neue burschikose Frau, junge Leute ohne Perspektive), dominieren bei den Wiener Kollegen um Gustav Klimt die ornamentale Form und das Symbolhafte.










Gustav Klimt, Johanna Staude, 1917; unvollendet

Eminent. Oder einfach dufte
 
Trotz dieser sehr unterschiedlichen Ausrichtungen gab es regen Austausch. Viele Wiener Künstler übersiedelten nach Berlin und erfassten die pulsierende Großstadt noch einmal ganz anders als ihre deutschen Kollegen. Junge österreichische Künstler wie etwa Egon Schiele treten aus dem Schatten Klimts und werden mit ihrer avantgardistischen Kunst, geprägt auch durch die Psychologisierung Sigmund Freuds, in Berlin einem größeren, aufgeschlosseneren, aber auch kritischerem Publikum bekannt gemacht. Kunsthändler und Publizisten knüpfen Netzwerke zwischen beiden Städten. 
 









Hannah Höch, Die Journalisten, 1925
 
Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Tod von Klimt und Schiele gerät die Wiener Kunstwelt international in den Hintergrund, während sich in Berlin die Vertreter von Dada und der Neuen Sachlichkeit offensiv mit der politischen und gesellschaftlichen Lage auseinandersetzen und zu neuer Blüte reifen. Währenddessen kennt man in Wien keinen alles in Frage und auf den Kopf stellenden, scharfzüngigen Dadaismus. Kinetismus ist stattdessen die Kunstform der Stunde: utopistische Weltentwürfe und avantgardistische Bildsprache.
 









Erika Giovanna Klien, Lokomotive, 1926 
 
Das progressive, aggressive Berlin versus das behütete, sinnliche Wien gibt es also unter vielen Werken großer Künstler zu entdecken. Damals gingen manche Kritiker so weit, Wien als die Frau und Berlin als den Mann unter den Kunstmetropolen zu sehen.
 
Eindringlich, umwerfend, witzig, schön
 
Abgesehen von diesem gewollten Vergleich: Auch abseits der damaligen Berlin-Wien-Rivalität sind die hier gezeigten Bilder für den Besucher eine großartige Gelegenheit, sich in die Herzen der Bevölkerung rund um die beiden Weltkriege und in die Köpfe ihrer schlauesten Kritiker zu versetzen. Die größten Künstler ihrer Zeit wie Max Beckmann, Otto Dix, George Grosz, Hanna Höch, Käthe Kollwitz, Max Oppenheimer, Max Pechstein und viele weitere sind hier zu sehen. Es braucht Stunden, um einen Rundgang ernsthaft zu Ende zu bringen, so eindringlich sind viele Arbeiten - und so eingängig kuratiert.
 









Filiale der Wiener Werkstätte in Berlin, Ende der 20er Jahre. 
 
Darunter umwerfende Arbeiten wie eine Mappe von Otto Dix, in der er Erinnerungen an seine Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg als Radierungen festhielt: Verwundete mit unsäglich hilfesuchenden Gesichtern. Die nächtliche und fast schon komische Begegnung mit einem Irrsinnigen, der inmitten des kriegerischen Irrsinns dümmlich lächelt. Tote mit halb verwesten Schädeln. Oder auch Lithografien von Willy Jaeckel mit nicht minder eindringlichen Kriegserinnerungen: Aggressive, verzweifelte und auch eigentlich unwillige, aber durch die Kumpanen angefeuerte Soldaten beim Vergewaltigen einer Frau und ähnlich abscheuliche Szenen machen deutlicher als jedes Foto, wie stark der Krieg die Menschen deformierte.
Lotte Laserstein, Im Gasthaus, 1927
Oder auch intensive Arbeiten der Künstlerin Lotte Laserstein: "Im Gasthaus" heißt schlicht ihr Bild von 1927 - und es erzählt doch viel mehr: Laserstein war eine der ersten Frauen, die an der Berliner Akademie der Künstler studieren durfte, der Zugang zur akademischen Ausbildung war Frauen erst seit 1919 erlaubt. Ihr Mix aus altmeisterlicher Maltechnik und alltäglichen Motiven war so bestechend, dass der Magistrat der Stadt Berlin ihr Gasthaus-Bild mit dem Portrait der blonden jungen Frau 1928 kaufte. Zeit ihres Lebens dachte die Künstlerin, die 1937 wegen ihrer jüdischen Familie vor den Nazis aus Deutschland fliehen musste, ihr Bild sei im Zweiten Weltkrieg zerstört worden.
 









Ernst Neuschul, Zwei müde Frauen, 1925. 
 
Stattdessen wurde es nach ihrer Flucht als "entartete Kunst" beschlagnahmt und kam in Privatbesitz. Erst kürzlich wurde es auf einer Kunstauktion entdeckt und jetzt, fast 80 Jahre später, wird es erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Noch ein weiteres Bild der Künstlerin ziert die Ausstellung: ein großformatiges Ölgemälde mit dem Titel "Abend über Potsdam" von 1930 zeigt intensiv die Stimmung intellektueller junger Großstädter in den frühen Dreißigerjahren: trüb, orientierungslos, aber noch nicht gänzlich hoffnungslos, was sich später als Trugschluss erweisen sollte.
 









Herbert Ploberger, Selbstbildnis (mit ophthalmologischen Lehrmodellen), 1928 – 1930 
 
Zuguterletzt gibt es auch einfach Schönes und Witziges: Wie etwa die tiefgründigen Portraits dekadenter Damen von Christian Schad mit den für die 20er Jahre üblichen Bubikopffrisuren oder die Bleistiftzeichnungen berühmter Künstler, die sich gegenseitig karikierten.
 
Die Wiener würden zu dieser Fülle an hochpolitischer wie historisch verdichteter als auch optisch höchst zugänglicher Kunst wohl sagen: eminent. Im Berliner Sprech hieße es dagegen schlicht: dufte. [Ich habe seit wenigstens zwei Jahrzehnten keinen Berliner mehr dufte sagen hören. JE]
 









Carry Hauser, Jazzband,1927
























 
Die Ausstellung ist bis zum 27. Januar in Berlin zu sehen, von Mitte Februar bis Mitte Juni 2014 in der Galerie Belvedere in Wien, die am Konzept beteiligt war. Zur Ausstellung erscheinen ein Katalog und eine App, dazu gibt es verschiedene Wien-Nächte. Weitere Infos unter http://www.berlinischegalerie.de/