Montag, 25. November 2013

Die Geburt der Stadtvedute.

aus Neue Zürcher Zeitung, 19. 12. 09                                                                                                            Il Sassetta, Siena, Anf. 15. Jhdt.

Die Entdeckung der «schönen Stadt» 
Über die Geburt der Stadtvedute

Die Stadt ins Bild zu rücken, ist nicht seit je selbstverständlich. Schließlich ist der ummauerte Freiraum nicht selten chaotisch, schmutzig und auch übelriechend. Wie kommt es dazu, dass die Stadt für bildwürdig gehalten wird? – Ein kulturhistorischer Rückblick.

Von Bernd Roeck

Im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts machte sich ein bis heute unbekannter Holzschneider daran, das Bild von Florenz anzufertigen. Man kann die grossen Kirchen erkennen, Santa Croce etwa und den Dom. Der Palazzo Vecchio ist auszumachen, das Baptisterium; dazu die mächtigen Stadtmauern und der Arno, der Florenz durchquert. Merkwürdigerweise umwindet er sein Bild mit einer Kette. Daher hat der Holzschnitt seinen Namen: «Plan mit der Kette». Es ist die erste bildliche Darstellung, die eine identifizierbare Stadt zum Thema hat und nur sie. Wie für so vieles – die Zentralperspektive, die doppelte Buchführung, die Wiederentdeckung der Antike in der Architektur – ist Florenz der Ort, an dem die neuzeitliche Stadtvedute ihr Début gibt.
 
Plan mit der Kette

Physik und Metaphysik

Anfangs hatten Zeichner und Siegelschneider die Stadt allein durch Symbole dargestellt. Manchmal wurden einzelne Gebäude, etwa ein Stadttor, als Zeichen des Ganzen genommen. «Stadt», das war im Mittelalter ja einfach ein ummauerter Raum gewesen, eine Festung, die vor irdischen Feinden und dämonischen Mächten schützte. Die Schönheit dieses Gebildes war nicht ganz von dieser Welt gewesen. Die Ansammlungen von wehrhaften Mauern, von Toren und Türmen erschienen als Abbilder heiliger Städte, Jerusalems und Roms. Ihre Form verwies auf Gott und Heilige, unter deren Schutz ihre Einwohnerschaft sich wusste. Die Darstellungen, die sich auf Siegeln und anderswo von ihnen finden, hatten mit gemauerter Wirklichkeit wenig, mit Metaphysik viel zu tun.

Bilder, die mehr sein wollten als Symbole, dringen, nach bemerkenswerten Vorläufern in der Kunst Sienas um 1350, im 15. Jahrhundert vor. Sie sind aber zunächst allein Staffage für Themen, die auf anderes fokussieren, etwa biblische Erzählungen. Viele der frühen Ansichten hatten den Zweck, durch die Erinnerung an heiliges Geschehen wie das Martyrium eines Stadtheiligen fromme Gefühle hervorzurufen. Eine in Venedig gedruckte Gebetsanleitung aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, der «Zardino de Orazion», empfahl, man solle sich gut bekannte Örtlichkeiten denken und Szenen der Passion darin spielen lassen; den Akteuren – Christus, Heilige, Maria -, so der Text weiter, seien die Physiognomien vertrauter Personen zu verleihen. So konnte das Leiden des Herrn besser nachempfunden werden. Piero della Francesca zum Beispiel zeigte im Hintergrund einer Szene des Freskenzyklus, der die Kreuzeslegende darstellte, nicht Jerusalem, sondern das toskanische Arezzo. 

Piero dell Francesca, Kreuzfindung, Arezzo, Ausschnitt

Die mehr oder weniger «naturgetreuen» Stadtansichten der «Chroniques de France» und in Schweizer Bilderchroniken stehen im Kontext der Berichterstattung über historische Ereignisse. Auch die exzeptionelle Neapel-Ansicht Francesco Rosellis, entstanden um 1470, ist nur Kulisse für die Darstellung eines Ereignisses, nämlich der Rückkehr der aragonesischen Flotte von einer Schlacht. Bilder wie dieses zeigen, dass die technischen Verfahren, deren es zur Herstellung naturgetreuer Stadtansichten bedurfte, vorhanden waren. Die Heiligen und andere Akteure mussten eigentlich nur die Bühne verlassen und den Blick auf die Stadt freigeben.

Tavola Strozzi, Francesco Roselli zugeschrieben
 
Der «Plan mit der Kette» bleibt nicht lange ein Solitär. Hartmann Schedels «Weltchronik», 1493 in Nürnberg gedruckt, ein verlegerisches Grossprojekt, enthält über 1800 Holzschnitte, unter denen viele Stadtdarstellungen sind. Exakt im Jahr 1500 folgt Jacopo de’ Barbaris monumentale Vogelschauansicht Venedigs, ein aufwendiger, detailreicher Holzschnitt, der Einblicke in gefrorenes Alltagsleben am Morgen der Moderne gewährt. Ein nördliches Gegenstück liegt zwei Jahrzehnte später vor, in Gestalt der 1521 fertiggestellten Augsburg-Vedute des Goldschmieds Jörg Seld. Sie ist vom venezianischen Vorbild inspiriert. Ebenfalls seit dem 16. Jahrhundert bemächtigen sich auch die Maler des Themas «Stadt». Rätselhafte Vorläuferin ist eine kleine, im 14. Jahrhundert in Siena entstandene Holztafel [s. Kopfbild].

Augsburg, Stadtplan von Jörg Seld, Ausschnitt


Frühe Höhepunkte
 
Die Zahl der gemalten und gedruckten Stadtveduten geht schon im 16. Jahrhundert in die Tausende. Höhepunkte markieren Sebastian Münsters «Cosmographia», Johann Stumpfs «Eidgenössische Chronik» und die «Städte des Erdkreises», die Georg Braun herausgab und der Stecher Frans Hogenberg mit Illustrationen versah (seit 1572). Alle Vorläufer stellt das Stichwerk Matthäus Merians in den Schatten. Mit seiner Sammlung prächtiger Veduten, die 1642 ihren Siegeszug auf dem europäischen Buchmarkt begann, erhielt praktisch jede europäische Stadt von Bedeutung ein Dokument ihres Aussehens.

Basel
 
Die Entstehung der autonomen Stadtvedute ist ein faszinierender Vorgang. Es ist ja keineswegs selbstverständlich, dass die Stadt – ein bei genauerer Betrachtung oft nicht mehr als chaotisches, manchmal übelriechendes Unternehmen prosaischer Daseinsvorsorge – für bildwürdig gehalten, mithin als «schön» angesehen wird.

 
Den Bildern ging ein lang anhaltender Urbanisierungsprozess voraus. Begünstigt durch eine vorteilhafte Klimaentwicklung, die mittelalterliche Warmzeit, war es zu einem wirtschaftlichen und demografischen Aufschwung gekommen. Er gewann um die Mitte des 11. Jahrhunderts an Dynamik; die Leute rodeten das Land, gründeten Siedlungen, von denen sich viele zu Städten aufschwangen. Um 1150 gab es in Mitteleuropa etwa zweihundert Städte und stadtähnliche Gebilde; zweihundert Jahre später hatte sich diese Zahl mehr als versiebenfacht. Während dieser Zeit waren Rechner und Vermesser gefragt. Die Vorstellung, die mittelalterliche Stadt sei, einem Lebewesen gleich, gewissermassen aus sich selbst gewachsen, ist ein romantischer Mythos. Vielmehr wurde nun geplant und abgesteckt; man spannte Schnüre, Kreise wurden in den Boden geritzt und Geraden gezogen.
 

Matthäus Merian, Darmstadt

Man muss diese Vorgänge aber aus den Grundrissen lesen. Schriftlichen Niederschlag hat die Planungsarbeit nämlich meist nicht gefunden. Eine immer mehr Einzelheiten regelnde Baugesetzgebung begegnet zuerst in Gestalt der Statuten italienischer Städte. Spätestens im 12. Jahrhundert geht es darin nicht mehr nur um Hygiene, Feuerschutz und andere praktische Fragen, sondern auch um Schönheit, um die «bellezza» der Stadt. Die eindrucksvollsten Beispiele dafür finden sich in den Statuten von Siena und Florenz.
 
Die Gesetze flankierten hier und anderswo ausserordentliche städtebauliche Projekte. Die Kommunen nutzten die Architektur, um Reichtum und Grösse zu demonstrieren, aber auch, um ihren eigentlichen Stadtherren – Gott und den Heiligen – Ehre zu erweisen. Man wollte die grösseren Paläste, die höheren Türme, die schöneren Strassen als der jeweilige Nachbar besitzen. Macht hat ja immer Architektur genutzt, um von sich ein Bild zu geben. So entstand im Italien des Mittelalters und der Renaissance eine der eindrucksvollsten Städtelandschaften der Welt.
 
Ihre frühesten Spiegelungen fand diese Entwicklung in der Literatur, im «Städtelob». Den Auftakt neuzeitlicher Stadtpanegyrik macht Leonardo Brunis «Lob von Florenz»; der Florentiner Kanzler und Humanist schrieb es 1403/04 nieder. Seine Stadt tritt damit in direkte Beziehung zu einer anderen Weltstadt der Kultur, nämlich zu Athen. Der Text hat die Athen-Lobrede des Aelius Aristeides (117-187 n. Chr.) zum Muster. Brunelleschis Domkuppel, die nun emporwuchs und, nach den Worten eines Chronisten, ihren Schatten über die Völker der Toskana warf, wurde zum machtvollen Manifest kommunalen Selbstbewusstseins und Ausdruck bürgerlicher Frömmigkeit.
 

 
Erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts wurden die Stadt und die Ästhetik ihrer Architektur zum Gegenstand theoretischer Reflexion. Den Anfang machten Leon Battista Albertis «Zehn Bücher über die Baukunst», mit denen die nachantike Architekturtheorie ihren Anfang nimmt. Es folgten die Traktate des Florentiners Antonio Averlino und Francesco di Giorgio Martinis, der vor allem als Festungsbaumeister des Herzogs von Urbino hervortrat. Im Umkreis des urbinatischen Hofes entstanden auch drei ebenso berühmte wie rätselhafte Bilder, von denen sich eines noch immer in Urbino, die beiden anderen in Baltimore und Berlin befinden. Sie zeigen merkwürdige, nahezu unbelebte städtische Szenerien, imaginäre Traumgebilde, die an Giorgio De Chiricos metaphysische Städte denken lassen. Sie illustrieren die nun immer lebhafter werdenden Diskussionen um die ideale Stadt, die sich im Traktat Francesco di Giorgios als kristallines, nach den Gesetzen der Geometrie geformtes Gebilde zeigt, das bereits die Schrecken moderner Urbanistik vorausahnen lässt.

Die ideale Stadt (u.a. Leon Batista Alberti zugeschrieben)
 
Die Karriere der Stadtdarstellung gehört aber in einen noch weiteren, umfassenderen Zusammenhang. Ihre Etablierung als eigene Gattung hat ja Parallelen: Etwas früher dringen «naturnahe» Porträts vor, Reflexionen über das Subjektive also; dazu kommt eine wachsende Zahl mythologischer Darstellungen. Stillleben, autonome Landschaft und Genrebild folgen. Das 16. Jahrhundert erlebt überhaupt eine beträchtliche Zunahme von Bildern mit weltlichen Themen. Die allmähliche Säkularisierung der Kunst, zu der die Etablierung der Stadtvedute gehört, ist ein bedeutender Aspekt der kulturellen Revolution, die sich hinter dem Schlagwort «Renaissance» verbirgt.

Idealstadt, um 1480
 
Die Entzauberung der Bilder verläuft weder kontinuierlich noch linear; sie wird aber nicht aufgehalten, nicht einmal durch die Glaubenskontroversen und Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts. Italienische Kunstschriftsteller machen sich daran, die Räume der Kunst präziser zu umgrenzen. In Kirchenräumen wird reglementiert und zensiert; jenseits der sakralen Zonen haben die Bilder bald alle Freiheit, die Dinge der Welt abzubilden, selbst Überspanntes und Obszönes. Was die Stadtveduten betrifft, so entspricht der Entfaltung der Gattung ein Wandel ihrer Funktionen. In Schlössern und Kommunalpalästen begegnen immer häufiger Darstellungen, mit denen die Hausherren ihre Herrschaft demonstrieren. Und die prächtigen Stadtbücher waren Vorläufer des Fernsehgeräts. Sie dienten als Vehikel für geistige Reisen.
 

Canaletto, Die Themse und die Londoner City von Richmond House gesehen

Wie humanistische Lobredner ihre Städte ansehnlicher machten, als sie in Wirklichkeit waren, wie sie stinkenden Unrat, Misthaufen und Schlamm auf den Strassen verschweigen, so sind auch die Veduten geschönte Bilder. Wird doch einmal ein Galgen samt baumelndem Missetäter ins Bild gerückt, unterstreicht das unschöne Detail nur, dass die jeweilige Stadt über die Hochgerichtsbarkeit verfügt, Macht hat über Leben und Tod. Selbst das Bild der Richtstätte wird so zum Accessoire patriotischen Stolzes. Dazu werden wichtige Gebäude übergross abgebildet und in «reale» Topografien placiert; aber die Künstler retuschieren, polieren, arrangieren. Sie wählen imaginäre, erhöhte Standpunkte und kombinieren unterschiedliche Perspektiven, so dass alles Wichtige ins Bild kommt; sie verbreitern Strassen und verbergen Bretterbuden, den Schindanger oder Ruinen.

Caspar van Wittel-Vitellio, Trevi-Brunnen, Rom
 
Für solche Abweichungen von der Wirklichkeit lassen sich theoretische Begründungen finden. Die Theoretiker der Renaissance forderten zwar unverdrossen, es komme darauf an, die Natur nachzuahmen, also die Welt so zu zeigen, wie sie ist. Doch brachten sie zugleich das Kriterium des «decorum» ins Spiel: Die Maler hatten Schicklichkeit zu wahren, Hässliches – auf Porträts etwa körperliche Mängel – zu verschweigen. Sie sollten die Dinge zurechtrücken, die Realität organisieren, Poesie, nicht Prosa geben.
 
Autonomie der Stadt – und der Bilder
 
So geht mit der Entdeckung der Stadt als Thema der Kunst ihre Idealisierung einher. Die Bilder pflanzen ästhetische Muster ins kollektive Gedächtnis, die die Vorstellungen von dem, was eine «schöne Stadt» ausmacht, von nun an nachhaltig bestimmen. Fotografische Aufnahmen von Städten folgen noch bis zu Ansichtspostkarten der Gegenwart häufig der Bildregie, die von den Künstlern der Renaissance und des Barock entwickelt worden ist. 

El Greco, Toledo, 1610/14

Eine neue, veränderte Qualität erreicht das neuzeitliche Stadtbild mit der Toledo-Vedute El Grecos (1610/14) und mit Vermeers Ansicht von Delft (um 1660/61). Es sind Bilder, für die das Thema «Stadt» nur noch Vorwand ist, um eigene ästhetische Strukturen zu entwickeln. Das geschieht bezeichnenderweise zur selben Zeit, als die Verfahren zu einer fast fotorealistischen Wiedergabe von Stadtbildern perfektioniert werden. Im 17. Jahrhundert hat eine Tradition ihre Anfänge, die bis zu den Stadtbildern der Impressionisten, zu den «Schnappschüssen» Caillebottes, schliesslich zur Avantgarde des 20. Jahrhunderts reicht und in den Stadtinterpretationen Légers, Klees, Kokoschkas kulminiert. Ihre Gemälde und Grafiken wollen die «wirkliche» Stadt, die längst über Fotografien und Filme reproduzierbar ist, nicht mehr einfach spiegeln. Sie nehmen sie als Anregung zur Schöpfung von Kunstwerken, bei denen es nur noch um Farben und Formen geht.
  
Caillebotte, Straße in Paris, an einem Regentag, 1877
Prof. Dr. Bernd Roeck lehrt und forscht als Historiker an der Universität Zürich. Er leitet ein Projekt des Schweizerischen Nationalfonds zur Entwicklung des Bildes der Schweizer Stadt. 


Nota.

Er hätte die städtische Vedutenmalerei in einen Zusammenhang mit der Landschaftsmalerei stellen sollen. Um dann die Stadtvedute in einem spezifischen Gegensatz zur Landschaftsvedute darzustellen; nämlich als Gegensatz von (vernünftig konstruiertem) Menschenwerk und (blind wuchernder) 'Natur'! Da wäre eine Menge herauszuholen.
JE 

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