Der Traum von der schönen Stadt
Mögliche Wege zu einer neuen urbanen Qualität
Mögliche Wege zu einer neuen urbanen Qualität
Eine Rückbesinnung auf die Tradition der Stadtgestaltung wünschen sich heute viele Menschen. Statt über die Anonymität neuer Siedlungen zu klagen, sollten wir vielfältige Lösungen zur urbanen Stadtraumbildung im Ensemble fördern.
Von Jürg Sulzer
Die Schönheit der Stadt zeichnet sich seit Jahrhunderten dadurch aus, dass die Gestaltung ihrer Häuser stets sorgfältig auf die Tradition Bezug nahm. In der Zeit vor der Moderne des 20. Jahrhunderts wäre es kaum einem Baumeister in den Sinn gekommen, ein neues Haus zu bauen, ohne sich zuvor ein Bild zu machen über die Proportionen und Fassadengestaltung der bereits bestehenden Gebäude. Die Forderungen von Le Corbusier zur Trennung der verschiedenen Nutzungen in der Stadt und die heute vorherrschenden Gestaltungsprinzipien der Moderne führten zur Unterbrechung des kritischen Dialogs zwischen Stadtgeschichte, Stadtbaugestaltung und heutiger Stadtgestaltung. Die Anbetung einer puren Zweckrationalität beziehungsloser Einzelbauten mit annähernd normierter Gestaltung ihrer Fassaden ist eine Folge dieser Moderne.
Richti
Derartige Siedlungen finden sich in der Schweiz in allen Agglomerationen rund um die historischen Städte. Diese neuen Siedlungen sind sich in der Regel zum Verwechseln ähnlich. Wenn wir die Menschen fragen würden, ob sie in den heutigen Gebäuden mit ihren glatten Fassaden und fehlenden stadträumlichen Bezügen gerne wohnen, würde wohl eine Mehrheit dem Wohnen in historisch geprägten, raumbildenden Stadtteilen mit ihren vielfältig nutzbaren Häusern und Innenräumen den Vorzug geben - was übrigens der Wohnungsmarkt tausendfach bestätigt.
Lernen für die Zukunft
Der nordamerikanische Kunsthistoriker Jeffrey F. Hamburger hat sich jüngst gefragt, was das Besondere alter Gemälde - beispielsweise des ausgehenden 15. Jahrhunderts - ausmacht. Er kam zum Schluss, dass sie eigentlich nur verständlich seien, wenn sie im Ensemble mit anderen Werken aus derselben Zeit bestaunt werden können. Für die Künstler sei es damals eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass sie mit einem ganzen Spektrum entliehener Vorbilder arbeiteten. Ihre Kopien seien als schöpferische Amalgame anzusehen, aus denen etwas Neues hervorgegangen sei. Dabei ergebe sich ein tiefgründiges Verständnis der wahren Bedeutung von Tradition. Diese stehe nicht für etwas, was man einfach übernehme und wiederhole, sondern für etwas, was sich nur dann mit neuem Leben erfüllen lasse, wenn es ständig der Gegenwart anverwandelt werde. In diesem Zusammenhang verweist Hamburger auf T. S. Eliot, der feststellte, dass das richtige Verständnis von Tradition einen Sinn für Zeit und für Zeitgenossenschaft erfordere. Tradition könne man nicht erben, sie müsse mit Mühe erworben werden.
Zwicky
Weshalb könnte dieser kunstgeschichtliche Blick die Tradition in der Gestaltung städtebaulicher Ensembles und damit die Schönheit der Stadt stärken? Während vieler Jahrhunderte fühlten sich die Baumeister - ähnlich den damaligen Künstlern - verpflichtet, an die gestalterischen Prinzipien der bereits vorhandenen Häuser und städtebaulichen Ensembles anzuknüpfen. Dank dieser Sorgfaltspflicht bewahrten beispielsweise die Schweizer Innenstädte bis heute ihre Identität, wenn bauliche Veränderungen aus den örtlichen Besonderheiten heraus entwickelt wurden, statt jedem modernistischen Trend und jeder technischen Möglichkeit zu folgen. Die Moderne sollte Schritt für Schritt hingeführt werden auf eine vielschichtige Interpretation von Stadtbautradition, Stadtarchitektur und Ensemblegestaltung - und zwar ohne der vereinfachenden Logik von Retro-Architektur oder Postmoderne zu folgen. In einem neuen Verständnis von Tradition liegen die eigentlichen Chancen, Meisterwerke des verdichteten Bauens im Ensemble hervorzubringen. Eine sorgfältige Gestaltung der Städte und Stadtagglomerationen ist dringender denn je geboten, damit im Zeitalter der Globalisierung die Bürger ihre Stadt auch jenseits der historischen Altstädte als schön empfinden. In einer neuen Interpretation der örtlichen Situation liegt der stadträumliche und architektonische Wert, das «schöpferische Amalgam», um eine neue urbane Qualität für die Städte und Stadtagglomerationen zu schaffen.
Zwicky
Mit der städtebaulichen Moderne ist im 20. Jahrhundert das Verständnis über Raumbildung und Bauen im Ensemble verloren gegangen. Wenn wir weniger Landschaftszersiedlung wollen, dann müssen wir Dichte und Schönheit der Stadt als sich kreativ ergänzende Anliegen verstehen. An die Stelle selbstgefälliger Inszenierungen von Bauten in internationalem Design tritt die identitätsbildende, architektonische Gestaltung des Stadtensembles, das sinnstiftend für Zeit und Zeitgenossenschaft wirkt. Es gibt heute keinen Grund mehr, eine Ornamentlosigkeit in der Gestaltung von Gebäuden zu fordern. Die Stadtgestaltung sollte von Kontinuität und räumlichen Zusammenhängen erzählen. Raumbildung und Raumfolge von städtebaulichen Ensembles sind wesentliche Kriterien eines neuen und urbanen Städtebaus. Die Neubebauungen des Richti- oder des Zwicky-Areals in Wallisellen zeigen uns erste Schritte, wie wir Stadtbauarchitektur in Zukunft verstehen sollten: Ein Haus hat einen klar lesbaren Bezug zum öffentlichen Strassenraum, eine klar gestaltete Sockelzone mit vielfältigen Nutzungsmöglichkeiten und einen betonten Dachabschluss.
Zwicky
Ecken und Kanten, Vor- und Rücksprünge mit ihren Schattenwirkungen führen zu einer neuen Textur und Identität der städtischen Räume. Die architektonische Durchformung der Aussenwände eines Einzelhauses ist als Teil der Innenwand des Stadtraums zu verstehen. Es geht um ein spannendes Suchen von Gestaltungsverwandtschaften. Dabei sollten wir über neue urbane Verdichtungsqualität, über Fassadengliederung und über Qualitäten von Stadträumen sprechen statt über Verdichtung mit gesichtslosen Hochhäusern globaler Stararchitekten.
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Schönheit und Akzeptanz
Eine neue urbane Qualität der Stadt setzt voraus, dass Agglomerationssiedlungen zu baulich verdichteten Stadtquartieren umgebaut werden, die von vielfältigen Lebensstilen zeugen, unterschiedliche Nutzungen auf engstem Raum ermöglichen und kurze Wege innerhalb eines Stadtquartiers bieten. Eine urbane Qualität für verdichtete Stadtteile zu ermöglichen, würde zu mehr Schönheit der Stadt beitragen und deren Akzeptanz nachhaltig stärken. Durch Anknüpfung an die Stadtbautradition Schönheit zu gestalten, ist ein schöpferischer Prozess, der immer wieder Neues hervorbringt. Dies erfordert - neben einem entsprechenden Selbstverständnis der Architekten - eine zukunftsorientierte Stadtentwicklungspolitik, die die schöne Stadt zum Leitthema macht. Den Bürgern der Stadtagglomerationen wird dadurch mehr Geborgenheit und mehr Möglichkeiten zur Identifikation mit der Stadt geboten. Das Leben in der schönen Stadt wird zum Sinnbild für Vertrautheit, Identität und für das «Zuhause-Sein» - und es wirkt der Landschaftszersiedlung nachhaltig entgegen.
Prof. Dr.-Ing. Jürg Sulzer präsidiert die Leitungsgruppe des Forschungsprojektes «Neue urbane Qualität in Städtebau und Stadtentwicklung» des Schweizerischen Nationalfonds. Er befasst sich an der Technischen Universität Dresden mit Fragen des Stadtumbaus und des Denkmalschutzes. Zuvor war er langjähriger Stadtplaner in Bern.
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Nota. Beim Richti- und Zwicky-Areal handelt es sich um zwei Industriebrachen in der nordwestlich von Zürich gelegenen, im Kern dörflich gebliebenen Vorortgemeinde Wallisellen. Der Großraum Zürich gilt als die am schrecklichsten zersiedelte Fläche der Schweiz.
Die obigen Bilder stammen gehören zum Richti- und Zwicky-Areal. Spektakulär ist das nicht, und man muss wschon mehrmals hinschauen, um darauf die von Prof. Sulzer beschriebene Modellqualität zu erkennen. Aber das hat er wohl gemeint: keine skulpturalen Solitäre, sondern zwei Wohnviertel. (Könnte es aber sein, dass dort das Wohnen etwas teurer wird?)
JE
Zwicky
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