Sonntag, 29. September 2013

Architektur dient einem Zweck.

Sonntag, 4. August 2013

  
aus NZZ, 3. 8. 2013

Brauchbarkeit, Werthaltigkeit, Schönheit
 
Auch in unsicheren Zeiten muss Architektur funktionieren und die emotionalen Bedürfnisse der Menschen befriedigen

Ökonomisch schwierige, unsichere Zeiten sind für die Architektur nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine Chance. In Krisenepochen trennt sich die Spreu vom Weizen, und neue Strategien drängen sich auf: nicht Strategien eines billigen oder modischen, sondern eines dauerhaften und anspruchsvollen Bauens.

von Vittorio Magnago Lampugnani

Der Blick in die Zukunft hat in den seltensten Fällen etwas entdeckt, was sich auch bewahrheitet hat; und denjenigen, denen er gelungen ist, hat er nichts Gutes gebracht. Kassandra, die schönste Tochter von Priamos und Hekuba, der Apoll die Gabe der Prophezeiung verliehen hatte, fand nie jemanden, der ihr glaubte: So endete sie nach der Eroberung von Troja, die sie vorausgesehen hatte, als Kriegsbeute Agamemnons und wurde später, nachdem sie Agamemnon vergebens zu warnen versucht hatte, mit ihm zusammen von Klytämnestra ermordet. Laokoon, der auch ohne Kassandras übernatürliche Gabe die Gefahr des Pferdes erkannt hatte, das die Griechen den Trojanern überlassen hatten, wurde zusammen mit seinen beiden Kindern von zwei Riesenschlangen getötet, die Poseidon, dem sich sein Priester gerade ein Opfer zu bringen anschickte, entsandt hatte. 
 
Tiresias, der zuverlässigste und auch erfolgreichste Prophet der antiken griechischen Sagenwelt, der Narziss' Tod voraussagte, den thebanischen Königen ihr Schicksal aufzeigte und noch aus dem Reich der Toten Odysseus mit seinen prophetischen Fähigkeiten helfen konnte, war immerhin mit Blindheit geschlagen, starb eines unnatürlichen Todes und wurde von Dante in den achten Höllenkreis verdammt, auf ewig mit verdrehtem Kopf rückwärtszulaufen.

Häuser zum Wohnen

Annahmen über das Bauen der Zukunft zu treffen, ist also in vielerlei Hinsicht riskant. Eher lässt sich die Geschichte des Bauens nach Episoden befragen, deren Voraussetzungen denjenigen ähneln, die wir heute gewärtigen; und lassen sich vor diesem Hintergrund Vorschläge für eine Architektur und einen Städtebau skizzieren, die davon ausgehen, dass die Zukunft nicht vorausgesehen werden kann, aber trotzdem oder vielleicht sogar gerade deswegen zukunftsfähig sind.

 
Karl-Marx-Hof, Wien

Was kann man also denjenigen vorschlagen, die in unsicheren Zeiten wie der, die wir heute durchleben, bauen wollen? Als Erstes: Bauen Sie brauchbare Häuser! Das scheint fast eine Plattitüde. Schon Vitruv, der wichtigste uns überlieferte Architekt und Architekturtheoretiker der römischen Antike, führte in seinem Dreistern der architektonischen Tugenden zwischen der Firmitas und der Venustas, also der Festigkeit und der Schönheit, die Utilitas auf. Francis Bacon, der Philosoph und Staatsmann der frühen englischen Aufklärung, befand, man baue Häuser zum Wohnen und nicht zum Anschauen, weswegen die Zweckmässigkeit den Vorrang vor der Schönheit haben müsse, ausgenommen, wo man beides vereinigen könne. Für Gottfried Semper, dem vielleicht grössten Vordenker der architektonischen Moderne im 19. Jahrhundert und Begründer der Bauschule am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich, galt die Necessitas, also die funktionale Notwendigkeit, als «sola artis domina» und mithin als die einzige Herrscherin der Kunst.

In den letzten zwei, drei Jahrzehnten ist die architektonische Kultur, von den intellektuellen Experimenten der Philosophie, der Literatur und vor allem der bildenden Kunst verführt, zu alledem auf Distanz gegangen. Die Selbstverständlichkeit, ein Gebäude müsse zweckmässig sein, ist (vermeintlich) zur Banalität geraten, über die man nicht nur nicht spricht, sondern die man auch ignoriert. Die Aufmerksamkeit für die Brauchbarkeit von Architektur gilt vielerorts als langweilig oder zumindest konservativ: Der wahre Avantgardist setzte sich darüber hinweg.

In Wahrheit geht der wahre Avantgardist nach wie vor von der Brauchbarkeit aus, nur von der Brauchbarkeit, um sie, wie bereits Bacon als Möglichkeit durchschimmern liess, ästhetisch zu verarbeiten. Der sowjetische Regisseur Sergei Michailowitsch Eisenstein, Sohn des Stadtarchitekten von Riga, Schöpfer des Revolutionsfilms «Panzerkreuzer Potemkin» und gewiss kein Konservativer, mahnte in den Vorlesungen, die er 1932 und 1933 im Moskauer Institut für Filmkunst (GIK) über die Theorie der Filmmontage hielt, die kompositiven Regeln eines Werkes müssten sich aus den Gesetzen der Wirklichkeit ableiten, sonst verfiele man der Künstlichkeit, der Stilisierung, dem Formalismus. Die Wirklichkeit in der Architektur ist aber nichts anderes als die Aufgabe, die ihr obliegt und um derentwillen sie geschaffen wird.

Diese Aufgabe ist keineswegs nur materiell. Es genügt nicht, dass ein Haus funktioniert, es muss auch die Menschen, die es benutzen, emotional berühren. Genauer: Es muss deren emotionale Bedürfnisse befriedigen. In seiner Erzählung «Omero barchetta» lässt Alberto Savinio, der geniale Bruder des berühmteren Giorgio de Chirico, seine Hauptfigur sinnieren: «Wie dumm und unbedacht wir doch leben! . . . Ist es kalt, flüchten wir uns an einen beheizten Ort und sorgen dafür, dass uns die Kälte nicht einholt. Ähnliches machen wir, wenn es warm ist, indem wir uns an einen kühlen Ort begeben. Doch für die günstige Wärme und die günstige Kühle unseres Geistes treffen wir keinerlei Vorsorge, um sie vor den Gefahren und vor der Zerstörung zu schützen und zu erhalten. Für das Glück des Körpers gibt es das Haus, die Möbel, die wärmenden und kühlenden Apparate, das künstliche Licht. Aber was hat der Mensch erfunden, was hat er gebaut, um sein geistiges Glück zu behüten und zu beschützen?»

Architektur und Avantgardekunst

Wichtig beim Bauen in unsicheren Zeiten ist auch die Sparsamkeit. Auf den ersten Blick mag diese zweite Aufforderung noch selbstverständlicher, noch überflüssiger erscheinen als die erste: Denn mit Ausnahme von vereinzelten extravaganten Selbstdarstellern hat es noch nie ein Bauherr darauf abgesehen, übermässig teuer zu bauen. Dass es in den letzten Jahrzehnten gleichwohl geschehen ist, liegt an der gefährlichen Ehe, welche die Architektur mit der avantgardistischen Kunst eingegangen ist. Noch Adolf Loos hatte eine scharfe Grenzlinie zwischen Kunst und Architektur gezogen: Nur das Monument würde Letzterer angehören, alle übrigen Bauten nicht. Der kunsthandwerklich orientierte Flügel der klassischen Moderne, die Postmoderne und der Dekonstruktivismus haben die Grenzen verwischt und für das banalste Einfamilienhaus den Status eines Kunstwerks eingefordert: von Gerrit Rietvelds Haus Schröder in Utrecht bis zum Winton Guest House, das Frank O. Gehry 1987 in Waycata, Minnesota, baute. Wenn ein Haus kein Haus mehr ist, sondern eine Skulptur, sind sowohl die Nützlichkeitskriterien aufgehoben als auch die ökonomischen Parameter. Ein Businessplan mit gängigen Benchmarks macht sich da kleinlich.

Fr. Gehry, Winton Guest House
 

Sparsamkeit ist nicht nur bei der Erstellung eines Gebäudes geboten, sondern auch bei seiner Bewirtschaftung. Nur ein Bauwerk, das mit möglichst wenig Mitteln betrieben und unterhalten werden kann, ist ein wirklich sparsames Bauwerk. Und nur ein solches Gebäude ist nachhaltig. Es schont das Portemonnaie und die Umwelt: Es verbraucht wenig Energie, es stösst wenig Kohlendioxid aus, es verschmutzt kaum Luft, Erde und Wasser. Dabei ist die Aufforderung, sparsam zu bauen, nicht mit jener zu verwechseln, billig zu bauen. Deswegen lautet ein weiterer Vorschlag für das Bauen in unsicheren Zeiten: Bauen Sie werthaltig. Die Firmitas, die bereits Vitruv sämtlicher Architektur abverlangte, ist weit mehr als Voraussetzung für jene Gediegenheit, die jedes gute Haus auszeichnet: Sie ist das Instrument, das sicherstellt, dass die beim Bau eingesetzten Materialien und Konstruktionen möglichst lange halten. Das wiederum bedeutet, dass diese Materialien und Konstruktionen besser amortisiert werden können, auch über ökonomisch schwierige Perioden hinweg. In sicheren Zeiten lässt sich die Abschreibung eines Gebäudes zuverlässig kalkulieren und kann auch kurz gehalten werden: Indem das Gebäude billig erstellt und rasch entwertet wird. In unsicheren Zeiten (und in volatilen Finanzumfeldern) ist es kaum mehr möglich und ausgesprochen riskant. Ein gut gebautes, solides Haus unterliegt zwar als Finanzwert den jeweiligen Marktschwankungen, als Gebrauchswert (oder als langfristige Anlage) trotzt es den Krisen. Davon zeugen die Villen und Mietshäuser des 19. Jahrhunderts - mit ihren dicken und soliden Mauern, die zwar nicht unserem Minergie-P-Standard entsprechen, aber eine gute Schall- und Wärmedämmung sowie ein angenehmes Innenklima bieten; mit ihren Holzkastenfenstern, die zwar nicht die Leistungen der Dreifachverglasungen erreichen, aber wenn sie regelmässig angestrichen wurden, nach wie vor brauchbar sind; mit ihren guten Materialien und dem edlen Dekor ihres Innenausbaus, der nie überschwänglich ist, aber eine edle Atmosphäre ausstrahlt, die wir heute mehr denn je schätzen. Derlei Häuser sind Werte, die Bestand haben. Was damals mehr in sie investiert wurde, hat sich rasch ausgezahlt und tut es heute immer noch. Denn gut gebaute Häuser altern nicht nur langsamer als schlecht gebaute, sondern auch besser. Zudem kann ein altes Haus schöner und wertvoller sein als ein neues, wenn es entsprechend konzipiert und gebaut wurde. Norman Mailer hatte sicher solche Häuser im Sinn, als er bissig befand: «Wenn das Haus, auf das Du schaust, schöner ist als jenes, in dem Du wohnst, dann ist das Haus, auf das Du schaust, älter als Deins.»

Gerrit Rietveld, Schroederhus

Häuser können allerdings nur dann über lange Zeiträume hinweg genutzt werden, wenn sie einen Wandel in der Nutzung zulassen; sogar einen unvorhergesehenen Wandel. Deswegen sollte man in unsicheren Zeiten offen bauen. Mit diesem Vorschlag soll nicht der Leitsatz der radikalen Brauchbarkeit unterminiert werden; im Gegenteil. Ein Haus muss in höchstem und umfassendstem Mass funktionell sein, aber nicht für eine eng bestimmte Nutzung. Es muss vielerlei Funktionen aufnehmen, muss umgebaut werden können, muss für künftige Verwendungen offen sein, die wir uns heute gar nicht vorstellen können. Nur so kann es die Grenzen des Zweckes, für den es geschaffen wurde, sprengen und den Wandel überleben. Nur so kann es dauerhaft sein und dabei lebendig bleiben.

In den zwanziger Jahren experimentierte der Architekt Hugo Häring mit Grundrissformen, die er mit geradezu wissenschaftlicher Akribie aus den Funktionen der Gebäude ableitete: So zeichnete er etwa sich verjüngende Korridore, mit der Begründung, dass der Verkehr zum Ende der Gänge hin abnehmen und deswegen weniger Platz beanspruchen würde. Ludwig Mies van der Rohe, der in jenen Jahren das Büro mit Häring teilte, schaute skeptisch auf die schrägen Labyrinthe und rief mit gutmütigem Spott aus: «Mach doch die Räume gross, Hugo! Dann kannst Du alles darin machen.»
Genau darum geht es: um Räume, in denen man alles tun kann. Das ist das Geheimnis der Wohnungen des 18. und 19. Jahrhunderts, das Geheimnis der Fabrikgebäude und Manufakturen, die als Lofts ein zweites und nicht minder brillantes Leben führen. Dazu bedarf es zuweilen eines Mehrs an Raum, auf jeden Fall einer räumlichen Grosszügigkeit. Sie zahlt sich genauso aus wie die Werthaltigkeit der Konstruktion, weil sie dem Gebäude eine Beständigkeit ermöglicht, die Krisen, Veränderungen und eben Unsicherheiten trotzt.

Für architektonische Schönheit

Der letzte Vorschlag für das Bauen in unsicheren Zeiten ist der wichtigste: Bauen Sie schön. Das mag überraschen, weil ein Widerspruch zu bestehen scheint zu manchem, was zuvor nahegelegt wurde, vor allem zur Sparsamkeit. Aber die Schönheit, um die es hier geht, ist weder jene der applizierten Dekoration noch jene der aufwendigen skulpturalen Geste. Es ist die Schönheit der Einfachheit, die in allererster Linie in guten Proportionen und subtilen Harmonien wurzelt. Eine solche Schönheit kostet kein Geld, sondern Wissen, Sorgfalt, Arbeit und Geschmack.

Warum sollte man ausgerechnet in unsicheren Zeiten besonderen Wert auf schöne Häuser legen? Zum einen weil schöne Häuser mehr wert sind als hässliche. Aber ein Haus profitiert wirtschaftlich nicht nur von der eigenen Anmut, sondern auch von jener der Bauten seiner Umgebung. Entsprechende Erhebungen zeigen, dass Gebäude in anspruchsvollen Stadtvierteln beträchtlich höhere Miet- und Verkaufspreise erzielen als in belanglosen städtischen Umfeldern. Das gilt für den Chicagoer Vorort Oak Park, der massgeblich von Frank Lloyd Wrights Villen geprägt und im Vergleich mit anderen, ähnlichen Villenvierteln der Stadt beliebter und mithin teurer ist, wie auch für zahlreiche europäische Denkmalschutzgebiete, bei denen der wertmindernde Faktor des Schutzes mit seinen Auflagen und Einschränkungen durch die Qualität, den Charakter und den Charme der historischen Architektur mehr als ausgeglichen wird.

Ein weiterer, zweiter Grund, weswegen man in unsicheren Zeiten schön bauen sollte, ist die Immunität, die anerkannt schöne Bauten im städtischen Geschehen geniessen. Hässliche oder unbedeutende Bauten werden, wenn sie ausgedient haben, ohne Zögern und ohne Bedauern abgerissen, um ersetzt zu werden. Schöne, besondere Bauten versucht man zu erhalten, zu renovieren und zu revitalisieren. Ist es denkbar, dass der römische Palazzo Farnese abgetragen wird, um das wertvolle Grundstück besser auszunutzen? Oder: Wie kommt es, dass das Lever House von Skidmore Owings and Merrill in New York immer noch steht, obschon es sich zwischen seinen Nachbarn mittlerweile nahezu zwerghaft ausmacht? Solche Bauten werden als Teil der Architekturgeschichte und als Bereicherung der Stadt betrachtet, werden geschützt und vor der Spekulation verteidigt. So macht Schönheit ein Gebäude zu einem zuverlässigen Wert. Der dritte und vielleicht wichtigste Grund lautet: Schönheit ist nicht ein marginaler Luxus, den sich unsere Gesellschaft leisten kann oder auch nicht; sie ist eine lebensnotwendige Dimension und eine Voraussetzung für Kultur. Das ist nicht weniger wahr, weil unsere Epoche des Überflusses und der Gier es übersieht oder vergisst. Was wäre unser Leben ohne Poesie? In unsicheren Zeiten, in Zeiten von Erschütterungen und Krisen werden wir den Trost und die Kraft der Schönheit mehr brauchen denn je.

Prof. Dr. Vittorio Magnago Lampugnani lehrt Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich, ist Architekt in Mailand und Autor zahlreicher Publikationen, darunter «Stadt-Bau als Handwerk. 11 Gespräche und 7 Projekte, 1999-2011», erschienen im GTA-Verlag, Zürich.

 
oben, unten: Riemers Hofgärten, Berlin-Kreuzberg


Nota.

Kunst ist Arbeit, die keinen andern Zweck hat, als sich selbst. Aber Architektur hat einen andern Zweck als sich selbst.

Über den architekonischen Wert des Schroederhus wie des Winton Guest House entscheidet ihre Bewohn- barkeit, die man von außen nicht sieht. Wenn das avantgardistische Äußere die Wohnqualität nicht beeinträchtigt, muss es sich nur (selbständig) ästhetisch rechtfertigen - und das, da es sich in öffentlichem Raum befindet, im optischen Verhältnis zu seiner Umgebung. Von der hängt es ab, ob es sich besser eingliedern sollte oder rebellisch hervorspringen. Ich kenne das Schroederhus nur von ein paar Fotos. Und da kam es mir immer so vor, als wirkte es neben seinem überprosaischen  Backsteinnachbarn wie eine vorlaute Tankstelle.

J.E.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen