von Mario Schärli · Als Vernunftwesen trachtet der Mensch danach, seine natürlichen Ursprünge wenn nicht zu verleugnen, so doch zu kontrollieren. Triebe aufschiebend und in sozialitätstaugliche Bahnen lenkend, spielt er als gezähmtes Wesen seine Rolle im Schauspiel, das wir Gesellschaft nennen. Der Frankfurter Philosoph Christoph Menke würde sagen: Der Mensch eignet sich «Vermögen» an, mit denen er seine «Kräfte» beherrscht. Unter den Begriff des Vermögens fällt für Menke aus dem Alltag Vertrautes: die Fähigkeit, eine Diskussion zu führen, einen Text zu schreiben oder Tennis zu spielen. Allgemeiner gesprochen: Vermögen sind durch Übung erworbene soziale Praktiken, die in bestimmten Situationen bewusst und zielgerichtet angewendet werden. Ihren Ursprung haben Vermögen indes in den ihnen entgegengesetzten «Kräften», die Menke (mit Herder) als vorbewusste, «nicht am Massstab eines Gelingens» ausgerichtete Sinnlichkeit gelten. Sie sind das Natürlich-Triebhafte im Menschen, das seit Nietzsche das «Dionysische» heisst und aller Sozialisierung und Individualisierung vorausliegt: «Im Spiel der Kräfte sind wir vor- und übersubjektiv - Agenten, die keine Subjekte sind; aktiv, ohne Selbstbewusstsein; erfinderisch, ohne Zweck.»
Das Wahrheitsmoment der Kunst
Diese anthropologischen Grundlagen
hat Menke bereits in der Abhandlung «Kraft» (2008) entwickelt. Seither
hat er seinen Ansatz in kleineren Arbeiten in Richtung einer
philosophischen Ästhetik und eines philosophischen Denkens, das die
«ästhetische Erfahrung der Kunst ernst nimmt», erweitert; sie liegen nun
gesammelt unter dem Titel «Die Kraft der Kunst» vor.
Das Wahrheitsmoment der Kunst
besteht für Menke darin, dass der Mensch sich in und mithilfe der Kunst
selbst in seiner Doppelnatur erfährt, einerseits Vermögen, andererseits
Kräfte zu haben. Da Kräfte aber unbeherrscht und nicht zielgerichtet
seien, sei die Hervorbringung eines Kunstwerks ein mithin
unkontrollierbarer Prozess - ein «Experiment», so Menke. Der Künstler
vermöge es, sein subjektives Können so weit ausser Kraft zu setzen, dass
sich seine «dunklen Kräfte» spielerisch entfalteten und im Kunstwerk
zur Erscheinung kämen. Gäbe er sich allerdings nur dem richtungslosen
Rausch der Kräfte hin, brächte er nie ein Werk zustande; erst durch eine
subjektiv-selbstbewusste Aktivität nehme es Form an. Der Künstler
erweist sich so nicht nur als Bürger zweier Welten (wie jeder Mensch
nach Menke das Reich der Kräfte und das der Vermögen bewohnt), sondern
auch als Pendler zwischen den beiden: «Er ist Ort und Prozess des
Übergangs vom einen zum anderen - und wieder zurück.» Der Künstler sei
daher «in sich geteilt», und so - möchte man sagen - überträgt seine
Schizophrenie sich auf das Kunstwerk: «Kunst gibt es nur, wo Rausch und
Bewusstsein, Spiel der Kräfte und Bilden von Formen zusammenkommen.»
Was wir in der so bestimmten Kunst
erfahren können, sind wir selbst und unsere Fähigkeit zur
Überschreitung der Grenzen des Gegebenen - am Ende sei es unsere
Freiheit, meint Menke. Emphatisch unterstreicht er die Bedeutsamkeit der
Kunsterfahrung für das Denken überhaupt. Einerseits sei das Ästhetische
(wie bei Nietzsche) als Grenzen aufhebender Prozess der inspirierende
Anstoss jeder «Erneuerung des Denkens», dessen die Philosophie bedürfe,
ohne ihn selbst aber hervorbringen zu können. Andererseits habe die
ästhetische Freiheitserfahrung auch eine politische Dimension. Diese
bestehe aber genau nicht im Thematisieren politischer Inhalte im Werk,
weil dies die Kunst in den Dienst nähme und so ihrer Freiheit beraubte.
Menke entpuppt sich als Anwalt
einer «anarchischen Freiheit», einer Freiheit des Ausbruchs aus dem
Sozialen, aus Gesetzen und Normen. Diese Befreiung «vom Sozialen im
Sozialen» als «politikermöglichende Emanzipation» von der «natürlichen,
sozialen und kulturellen Existenz» des Menschen könne in der Kunst und
nur dort erfahren werden. «Politikermöglichend» sei diese Erfahrung,
weil es nur jenseits des Sozialen eine ursprüngliche Gleichheit aller
Menschen hinsichtlich der «Möglichkeit zum Erwerb von Vermögen» als
Gleichheit der Kräfte überhaupt gebe. Wer dagegen Gleichheit als
Gleichheit der Vermögen (als Vermögen zum rationalen Diskurs, wie
Habermas etwa) verstehe, verunmögliche Gleichheit geradezu, da Vermögen
stets ungleich verteilt seien. Pointiert formuliert, lautet die radikale
These Menkes also: Das «all men are created equal» der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung ist letztlich ein ästhetischer Gedanke.
Alle Menschen sind ungleich
Auch wenn man die Unmöglichkeit
einer gleichen Verteilung der Vermögen zugesteht, bleibt dennoch
fraglich, wie die Kräftegleichheit als gleiche «Möglichkeit zum Erwerb
von Vermögen» eine valable Alternative dazu darstellen soll. Offenkundig
sind doch etwa körperlich oder geistig Behinderte, ja eigentlich alle
Menschen in ihren Möglichkeiten zum Erwerb von Vermögen in je
unterschiedlichem Masse eingeschränkt, das heisst ungleich. Des Weiteren
bleibt unklar, ob und inwiefern sich die ästhetisch erfahrene
Kräftegleichheit, so es sie denn gibt, als Gleichheit ausserhalb des
Sozialen auf das Politische, das doch stets im Sozialen statthat,
auswirken soll.
Am Ende steht daher ein
gespaltener Eindruck: Menkes ausgesprochen luzide Aufsätze zur Ästhetik
sind in einen grösseren Rahmen eingebettet, der der Kunsterfahrung eine
systematische Rolle innerhalb der Philosophie einräumt, die sie seit
Adorno nicht mehr innehatte. Hier beackert Menke ein Feld, das fruchtbar
ist. Dieses Potenzial vermögen die bisweilen assoziativ bis dunkel
bleibenden Texte zu Politik, Freiheit und Philosophie leider nicht zu
entfalten. Vielmehr lassen sie die grundsätzliche Frage aufkommen,
inwiefern der Begriff der Kraft als einer, der, wie Menke zugibt, «nicht
objektiv bewiesen oder festgestellt werden kann», philosophisch über
die Ästhetik hinaus überhaupt anschlussfähig ist. Die Philosophie denkt
im Medium des Begriffs und mit den Vehikeln des Arguments. Das schliesst
ein, dass sie die Begriffe, mit denen sie operiert, selbst wiederum
verstehen will. Einsichtig zu machen, wie ein nebulöser Begriff wie
«Kraft», der sich einer denkenden Durchdringung bisweilen zu sperren
scheint, für die Philosophie mehr sein soll als ein Hindernis auf dem
Weg des Verstehens, bleibt wohl einer (durchaus wünschenswerten)
systematischen Ausarbeitung von Menkes Skizzen vorbehalten.
Christoph Menke: Die Kraft der Kunst. Suhrkamp, Berlin 2013. 179 S., Fr. 20.90.
Nota.
In der griechischen Mythologie gibt es die Chimären; das sind Zwitterwesen, teils Löwe, teil Ziege, aber auch teils Mensch, teils Vogel; jedenfalls oben etwas anderes als unten, hinten etwas anderes als vorn. Sowas gibt es in der Philosophie auch - vorne Begriff, hinten Bild, oder andersrum; nämlich in den vorwissenschaftlichen Weltanschauungs- und Lebensphilosophien. In der akademischen Philosophie haben sie seit Kant nur noch wenig Erfolg - außer natürlich in der Ästhetik. Dort sind sie nach wie vor Mode, Schiller hat sie dort eingeführt, indem er aus Bildern Argumente konstruierte, so als seien sie Begriffe. Wobei der Fehler natürlich nicht der ist, Sätze zu ästhetischen Dingen, die ja von Anschauungen handeln, in Bilder zu fassen; sondern darin, sie diskursiv zu verknüpfen, als ob sie etwas beweisen könnten. "Anschlussfähig", wie der Rezensent formuliert, sind sie so aber auch in der Ästhetik nicht. In der Ästhetik kann nur ein jeder versuchen, möglichst augenfällig nachzuzeichnen, was er selber gesehen hat - und hoffen, dass es Andere auch erkennen.
Doch wenn ich die Rezension recht verstehe, geht es bei Christian Menkes "Kraft" und "Vermögen" ja gar nicht um Ästhetik, sondern um Kunst. Wenn sie auch beide "irgendwie" miteinander zu tun haben, sind sie doch nicht dasselbe. Wohl hat in unserer Geschichte erst das Kunstschöne die Augen für das Naturschöne geöffnet, weshalb sich die Landschaftsmalerei erst im bürgerlichen Zeitalter entfalten konnte. Aber 'das, was' die Kunst an der Natur Schönes zu sehen lehrte, hatte sie nicht selbst gemacht, sondern nur aufgefunden. Sie hat uns ein Auge nicht erst eingesetzt, sondern lediglich unsern Blick gewendet.
Es muss also möglich sein, was Kunst ist, zunächst historisch zu fassen, wo wir diskursiv und zwingend argumentieren dürfen, bevor wir ihr Verhältnis zu 'dem Ästhetischen' betrachten, über das wir nur in Bildern reden können. Daraus mag erhellen, ob ihr Verhältnis außer einem historisch-kontingenten auch ein sachlich notwendiges ist.
Und hier kann ich mich glücklicherweise kurz fassen: Kunst ist das, was Künstler machen. Kunst wird dann zu einer kulturgemeinschaftlichen Instanz - über die eo ipso öffentlich gestritten werden kann -, wenn sich ein gesellschaftlicher Stand ausbildet, der von der Kunst und - da es sie anders nicht gäbe - für die Kunst lebt. Das kann er nur, wenn und weil 'das Ästhetische' in der Kultur neben dem Brauchbaren schon ein eignes Gewicht angenommen hat. Das Ästhetische entsteht nicht aus der Kunst, sondern aus den höheren Bedürfnissen, sobald die niederen Bedürfnisse erst einmal besorgt sind. (Dass die höheren Bedürfnisse zunächst nur die Bedürfnisse der oberen Klassen sind, gehört zu den Tücken unserer selbstgemachten Geschichte.) Erst dann kann sich die Produktion des Schönen oder sonstwie ästhetisch Erheblichen neben der und gegen die Produktion von Brauchbarem als besondere Erwerbsweise festsetzen; als Kunst im Unterscheid und im bestimmten Gegensatz zur Arbeit.
Und wenn wir von diesem Punkt an die spezifische Tätigkeit des Künstlers zu 'dem Ästhetischen' genauer betrachten wollten, dann könnten wir, wie immer wir das Ästhetische hinterher auffassen würden, auf Christopf Menkes Chimären, auf seine Mystifikation von "Kraft" und "Vermögen, verzichten.
J.E.
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