Sonntag, 4. August 2013
aus NZZ, 3. 8. 2013
Brauchbarkeit, Werthaltigkeit, Schönheit
Auch in unsicheren Zeiten muss Architektur funktionieren und die emotionalen Bedürfnisse der Menschen befriedigen
Ökonomisch schwierige, unsichere Zeiten sind
für die Architektur nicht nur eine Bedrohung, sondern auch eine Chance.
In Krisenepochen trennt sich die Spreu vom Weizen, und neue Strategien
drängen sich auf: nicht Strategien eines billigen oder modischen,
sondern eines dauerhaften und anspruchsvollen Bauens.
von Vittorio Magnago Lampugnani
Der Blick in die Zukunft hat in
den seltensten Fällen etwas entdeckt, was sich auch bewahrheitet hat;
und denjenigen, denen er gelungen ist, hat er nichts Gutes gebracht.
Kassandra, die schönste Tochter von Priamos und Hekuba, der Apoll die
Gabe der Prophezeiung verliehen hatte, fand nie jemanden, der ihr
glaubte: So endete sie nach der Eroberung von Troja, die sie
vorausgesehen hatte, als Kriegsbeute Agamemnons und wurde später,
nachdem sie Agamemnon vergebens zu warnen versucht hatte, mit ihm
zusammen von Klytämnestra ermordet. Laokoon, der auch ohne Kassandras
übernatürliche Gabe die Gefahr des Pferdes erkannt hatte, das die
Griechen den Trojanern überlassen hatten, wurde zusammen mit seinen
beiden Kindern von zwei Riesenschlangen getötet, die Poseidon, dem sich
sein Priester gerade ein Opfer zu bringen anschickte, entsandt hatte.
Tiresias, der zuverlässigste und auch erfolgreichste Prophet der antiken
griechischen Sagenwelt, der Narziss' Tod voraussagte, den thebanischen
Königen ihr Schicksal aufzeigte und noch aus dem Reich der Toten
Odysseus mit seinen prophetischen Fähigkeiten helfen konnte, war
immerhin mit Blindheit geschlagen, starb eines unnatürlichen Todes und
wurde von Dante in den achten Höllenkreis verdammt, auf ewig mit
verdrehtem Kopf rückwärtszulaufen.
Häuser zum Wohnen
Annahmen über das Bauen der
Zukunft zu treffen, ist also in vielerlei Hinsicht riskant. Eher lässt
sich die Geschichte des Bauens nach Episoden befragen, deren
Voraussetzungen denjenigen ähneln, die wir heute gewärtigen; und lassen
sich vor diesem Hintergrund Vorschläge für eine Architektur und einen
Städtebau skizzieren, die davon ausgehen, dass die Zukunft nicht
vorausgesehen werden kann, aber trotzdem oder vielleicht sogar gerade
deswegen zukunftsfähig sind.
Karl-Marx-Hof, Wien
Was kann man also denjenigen
vorschlagen, die in unsicheren Zeiten wie der, die wir heute durchleben,
bauen wollen? Als Erstes: Bauen Sie brauchbare Häuser! Das scheint fast
eine Plattitüde. Schon Vitruv, der wichtigste uns überlieferte
Architekt und Architekturtheoretiker der römischen Antike, führte in
seinem Dreistern der architektonischen Tugenden zwischen der Firmitas
und der Venustas, also der Festigkeit und der Schönheit, die Utilitas
auf. Francis Bacon, der Philosoph und Staatsmann der frühen englischen
Aufklärung, befand, man baue Häuser zum Wohnen und nicht zum Anschauen,
weswegen die Zweckmässigkeit den Vorrang vor der Schönheit haben müsse,
ausgenommen, wo man beides vereinigen könne. Für Gottfried Semper, dem
vielleicht grössten Vordenker der architektonischen Moderne im 19.
Jahrhundert und Begründer der Bauschule am Eidgenössischen Polytechnikum
in Zürich, galt die Necessitas, also die funktionale Notwendigkeit, als
«sola artis domina» und mithin als die einzige Herrscherin der Kunst.
In den letzten zwei, drei
Jahrzehnten ist die architektonische Kultur, von den intellektuellen
Experimenten der Philosophie, der Literatur und vor allem der bildenden
Kunst verführt, zu alledem auf Distanz gegangen. Die
Selbstverständlichkeit, ein Gebäude müsse zweckmässig sein, ist
(vermeintlich) zur Banalität geraten, über die man nicht nur nicht
spricht, sondern die man auch ignoriert. Die Aufmerksamkeit für die
Brauchbarkeit von Architektur gilt vielerorts als langweilig oder
zumindest konservativ: Der wahre Avantgardist setzte sich darüber
hinweg.
In Wahrheit geht der wahre
Avantgardist nach wie vor von der Brauchbarkeit aus, nur von der
Brauchbarkeit, um sie, wie bereits Bacon als Möglichkeit durchschimmern
liess, ästhetisch zu verarbeiten. Der sowjetische Regisseur Sergei
Michailowitsch Eisenstein, Sohn des Stadtarchitekten von Riga, Schöpfer
des Revolutionsfilms «Panzerkreuzer Potemkin» und gewiss kein
Konservativer, mahnte in den Vorlesungen, die er 1932 und 1933 im
Moskauer Institut für Filmkunst (GIK) über die Theorie der Filmmontage
hielt, die kompositiven Regeln eines Werkes müssten sich aus den
Gesetzen der Wirklichkeit ableiten, sonst verfiele man der
Künstlichkeit, der Stilisierung, dem Formalismus. Die Wirklichkeit in
der Architektur ist aber nichts anderes als die Aufgabe, die ihr obliegt
und um derentwillen sie geschaffen wird.
Diese Aufgabe ist keineswegs nur
materiell. Es genügt nicht, dass ein Haus funktioniert, es muss auch die
Menschen, die es benutzen, emotional berühren. Genauer: Es muss deren
emotionale Bedürfnisse befriedigen. In seiner Erzählung «Omero
barchetta» lässt Alberto Savinio, der geniale Bruder des berühmteren
Giorgio de Chirico, seine Hauptfigur sinnieren: «Wie dumm und unbedacht
wir doch leben! . . . Ist es kalt, flüchten wir uns an einen beheizten
Ort und sorgen dafür, dass uns die Kälte nicht einholt. Ähnliches
machen wir, wenn es warm ist, indem wir uns an einen kühlen Ort begeben.
Doch für die günstige Wärme und die günstige Kühle unseres Geistes
treffen wir keinerlei Vorsorge, um sie vor den Gefahren und vor der
Zerstörung zu schützen und zu erhalten. Für das Glück des Körpers gibt
es das Haus, die Möbel, die wärmenden und kühlenden Apparate, das
künstliche Licht. Aber was hat der Mensch erfunden, was hat er gebaut,
um sein geistiges Glück zu behüten und zu beschützen?»
Architektur und Avantgardekunst
Wichtig beim Bauen in unsicheren
Zeiten ist auch die Sparsamkeit. Auf den ersten Blick mag diese zweite
Aufforderung noch selbstverständlicher, noch überflüssiger erscheinen
als die erste: Denn mit Ausnahme von vereinzelten extravaganten
Selbstdarstellern hat es noch nie ein Bauherr darauf abgesehen,
übermässig teuer zu bauen. Dass es in den letzten Jahrzehnten gleichwohl
geschehen ist, liegt an der gefährlichen Ehe, welche die Architektur
mit der avantgardistischen Kunst eingegangen ist. Noch Adolf Loos hatte
eine scharfe Grenzlinie zwischen Kunst und Architektur gezogen: Nur das
Monument würde Letzterer angehören, alle übrigen Bauten nicht. Der
kunsthandwerklich orientierte Flügel der klassischen Moderne, die
Postmoderne und der Dekonstruktivismus haben die Grenzen verwischt und
für das banalste Einfamilienhaus den Status eines Kunstwerks
eingefordert: von Gerrit Rietvelds Haus Schröder in Utrecht bis zum
Winton Guest House, das Frank O. Gehry 1987 in Waycata, Minnesota,
baute. Wenn ein Haus kein Haus mehr ist, sondern eine Skulptur, sind
sowohl die Nützlichkeitskriterien aufgehoben als auch die ökonomischen
Parameter. Ein Businessplan mit gängigen Benchmarks macht sich da
kleinlich.
Fr. Gehry, Winton Guest House
Sparsamkeit ist nicht nur bei der
Erstellung eines Gebäudes geboten, sondern auch bei seiner
Bewirtschaftung. Nur ein Bauwerk, das mit möglichst wenig Mitteln
betrieben und unterhalten werden kann, ist ein wirklich sparsames
Bauwerk. Und nur ein solches Gebäude ist nachhaltig. Es schont das
Portemonnaie und die Umwelt: Es verbraucht wenig Energie, es stösst
wenig Kohlendioxid aus, es verschmutzt kaum Luft, Erde und Wasser. Dabei
ist die Aufforderung, sparsam zu bauen, nicht mit jener zu verwechseln,
billig zu bauen. Deswegen lautet ein weiterer Vorschlag für das Bauen
in unsicheren Zeiten: Bauen Sie werthaltig. Die Firmitas, die bereits
Vitruv sämtlicher Architektur abverlangte, ist weit mehr als
Voraussetzung für jene Gediegenheit, die jedes gute Haus auszeichnet:
Sie ist das Instrument, das sicherstellt, dass die beim Bau eingesetzten
Materialien und Konstruktionen möglichst lange halten. Das wiederum
bedeutet, dass diese Materialien und Konstruktionen besser amortisiert
werden können, auch über ökonomisch schwierige Perioden hinweg. In
sicheren Zeiten lässt sich die Abschreibung eines Gebäudes zuverlässig
kalkulieren und kann auch kurz gehalten werden: Indem das Gebäude billig
erstellt und rasch entwertet wird. In unsicheren Zeiten (und in
volatilen Finanzumfeldern) ist es kaum mehr möglich und ausgesprochen
riskant.
Ein gut gebautes, solides Haus
unterliegt zwar als Finanzwert den jeweiligen Marktschwankungen, als
Gebrauchswert (oder als langfristige Anlage) trotzt es den Krisen. Davon
zeugen die Villen und Mietshäuser des 19. Jahrhunderts - mit ihren
dicken und soliden Mauern, die zwar nicht unserem Minergie-P-Standard
entsprechen, aber eine gute Schall- und Wärmedämmung sowie ein
angenehmes Innenklima bieten; mit ihren Holzkastenfenstern, die zwar
nicht die Leistungen der Dreifachverglasungen erreichen, aber wenn sie
regelmässig angestrichen wurden, nach wie vor brauchbar sind; mit ihren
guten Materialien und dem edlen Dekor ihres Innenausbaus, der nie
überschwänglich ist, aber eine edle Atmosphäre ausstrahlt, die wir heute
mehr denn je schätzen. Derlei Häuser sind Werte, die Bestand haben. Was
damals mehr in sie investiert wurde, hat sich rasch ausgezahlt und tut
es heute immer noch. Denn gut gebaute Häuser altern nicht nur langsamer
als schlecht gebaute, sondern auch besser. Zudem kann ein altes Haus
schöner und wertvoller sein als ein neues, wenn es entsprechend
konzipiert und gebaut wurde. Norman Mailer hatte sicher solche Häuser im
Sinn, als er bissig befand: «Wenn das Haus, auf das Du schaust, schöner
ist als jenes, in dem Du wohnst, dann ist das Haus, auf das Du schaust,
älter als Deins.»
Gerrit Rietveld, Schroederhus
Häuser können allerdings nur dann
über lange Zeiträume hinweg genutzt werden, wenn sie einen Wandel in der
Nutzung zulassen; sogar einen unvorhergesehenen Wandel. Deswegen sollte
man in unsicheren Zeiten offen bauen. Mit diesem Vorschlag soll nicht
der Leitsatz der radikalen Brauchbarkeit unterminiert werden; im
Gegenteil. Ein Haus muss in höchstem und umfassendstem Mass funktionell
sein, aber nicht für eine eng bestimmte Nutzung. Es muss vielerlei
Funktionen aufnehmen, muss umgebaut werden können, muss für künftige
Verwendungen offen sein, die wir uns heute gar nicht vorstellen können.
Nur so kann es die Grenzen des Zweckes, für den es geschaffen wurde,
sprengen und den Wandel überleben. Nur so kann es dauerhaft sein und
dabei lebendig bleiben.
In den zwanziger Jahren
experimentierte der Architekt Hugo Häring mit Grundrissformen, die er
mit geradezu wissenschaftlicher Akribie aus den Funktionen der Gebäude
ableitete: So zeichnete er etwa sich verjüngende Korridore, mit der
Begründung, dass der Verkehr zum Ende der Gänge hin abnehmen und
deswegen weniger Platz beanspruchen würde. Ludwig Mies van der Rohe, der
in jenen Jahren das Büro mit Häring teilte, schaute skeptisch auf die
schrägen Labyrinthe und rief mit gutmütigem Spott aus: «Mach doch die
Räume gross, Hugo! Dann kannst Du alles darin machen.»
Genau darum geht es: um Räume, in
denen man alles tun kann. Das ist das Geheimnis der Wohnungen des 18.
und 19. Jahrhunderts, das Geheimnis der Fabrikgebäude und Manufakturen,
die als Lofts ein zweites und nicht minder brillantes Leben führen.
Dazu bedarf es zuweilen eines Mehrs an Raum, auf jeden Fall einer
räumlichen Grosszügigkeit. Sie zahlt sich genauso aus wie die
Werthaltigkeit der Konstruktion, weil sie dem Gebäude eine Beständigkeit
ermöglicht, die Krisen, Veränderungen und eben Unsicherheiten trotzt.
Für architektonische Schönheit
Der letzte Vorschlag für das Bauen
in unsicheren Zeiten ist der wichtigste: Bauen Sie schön. Das mag
überraschen, weil ein Widerspruch zu bestehen scheint zu manchem, was
zuvor nahegelegt wurde, vor allem zur Sparsamkeit. Aber die Schönheit,
um die es hier geht, ist weder jene der applizierten Dekoration noch
jene der aufwendigen skulpturalen Geste. Es ist die Schönheit der
Einfachheit, die in allererster Linie in guten Proportionen und subtilen
Harmonien wurzelt. Eine solche Schönheit kostet kein Geld, sondern
Wissen, Sorgfalt, Arbeit und Geschmack.
Warum sollte man ausgerechnet in
unsicheren Zeiten besonderen Wert auf schöne Häuser legen? Zum einen
weil schöne Häuser mehr wert sind als hässliche. Aber ein Haus
profitiert wirtschaftlich nicht nur von der eigenen Anmut, sondern auch
von jener der Bauten seiner Umgebung. Entsprechende Erhebungen zeigen,
dass Gebäude in anspruchsvollen Stadtvierteln beträchtlich höhere Miet-
und Verkaufspreise erzielen als in belanglosen städtischen Umfeldern.
Das gilt für den Chicagoer Vorort Oak Park, der massgeblich von Frank
Lloyd Wrights Villen geprägt und im Vergleich mit anderen, ähnlichen
Villenvierteln der Stadt beliebter und mithin teurer ist, wie auch für
zahlreiche europäische Denkmalschutzgebiete, bei denen der wertmindernde
Faktor des Schutzes mit seinen Auflagen und Einschränkungen durch die
Qualität, den Charakter und den Charme der historischen Architektur mehr
als ausgeglichen wird.
Ein weiterer, zweiter Grund,
weswegen man in unsicheren Zeiten schön bauen sollte, ist die Immunität,
die anerkannt schöne Bauten im städtischen Geschehen geniessen.
Hässliche oder unbedeutende Bauten werden, wenn sie ausgedient haben,
ohne Zögern und ohne Bedauern abgerissen, um ersetzt zu werden. Schöne,
besondere Bauten versucht man zu erhalten, zu renovieren und zu
revitalisieren. Ist es denkbar, dass der römische Palazzo Farnese
abgetragen wird, um das wertvolle Grundstück besser auszunutzen? Oder:
Wie kommt es, dass das Lever House von Skidmore Owings and Merrill in
New York immer noch steht, obschon es sich zwischen seinen Nachbarn
mittlerweile nahezu zwerghaft ausmacht? Solche Bauten werden als Teil
der Architekturgeschichte und als Bereicherung der Stadt betrachtet,
werden geschützt und vor der Spekulation verteidigt. So macht Schönheit
ein Gebäude zu einem zuverlässigen Wert. Der dritte und vielleicht
wichtigste Grund lautet: Schönheit ist nicht ein marginaler Luxus, den
sich unsere Gesellschaft leisten kann oder auch nicht; sie ist eine
lebensnotwendige Dimension und eine Voraussetzung für Kultur. Das ist
nicht weniger wahr, weil unsere Epoche des Überflusses und der Gier es
übersieht oder vergisst. Was wäre unser Leben ohne Poesie? In unsicheren
Zeiten, in Zeiten von Erschütterungen und Krisen werden wir den Trost
und die Kraft der Schönheit mehr brauchen denn je.
Prof. Dr. Vittorio Magnago Lampugnani lehrt
Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich, ist Architekt in Mailand
und Autor zahlreicher Publikationen, darunter «Stadt-Bau als Handwerk.
11 Gespräche und 7 Projekte, 1999-2011», erschienen im GTA-Verlag,
Zürich.
oben, unten: Riemers Hofgärten, Berlin-Kreuzberg
Nota.
Kunst ist Arbeit, die keinen andern Zweck hat, als sich selbst. Aber Architektur hat einen andern Zweck als sich selbst.
Über den architekonischen Wert des Schroederhus wie des Winton Guest House
entscheidet ihre Bewohn- barkeit, die man von außen nicht sieht. Wenn
das avantgardistische Äußere die Wohnqualität nicht beeinträchtigt, muss
es sich nur (selbständig) ästhetisch rechtfertigen - und das, da es
sich in öffentlichem Raum befindet, im optischen Verhältnis zu seiner
Umgebung. Von der hängt es ab, ob es sich besser eingliedern sollte oder
rebellisch hervorspringen. Ich kenne das Schroederhus nur von
ein paar Fotos. Und da kam es mir immer so vor, als wirkte es neben
seinem überprosaischen Backsteinnachbarn wie eine vorlaute Tankstelle.
J.E.